Christian Morgenstern – Der Hecht

Das Gedicht: Der Hecht

Ein Hecht, vom heiligen Antón
bekehrt, beschloß, samt Frau und Sohn,
am vegetarischen Gedanken
moralisch sich emporzuranken.

Er aß seit jenem nur noch dies:
Seegras, Seerose und Seegrieß.
Doch Grieß, Gras, Rose floß, o Graus,
entsetzlich wieder hinten aus.

Der ganze Teich ward angesteckt.
Fünfhundert Fische sind verreckt.
Doch Sankt Antón, gerufen eilig,
sprach nichts als: „Heilig! heilig! heilig!“

Versuch einer Interpretation

Hier findest Du übrigens Hinweise zur Interpretation von Gedichten.

Der Hecht gehört zu den Galgenliedern, welche 1905 erschienen sind. Die Galgenlieder wurden zwischen 1895 und 1905 verfasst. Sie alle haben humorvoll-zynischen Inhalt, und in jedem finden wir neben dem Spassig-Zynischen eine gute Portion Weisheit und Wahrheit oder philosophische Gedanken.

Inhaltsangabe, Zusammenfassung vom Gedicht Der Hecht

Das Gedicht beschreibt, wie ein Hecht samt Familie in einem Teich von einem Heiligen dazu gebracht wurde, sich moralisch zu verbessern, d.h. von seiner mörderischen Lebensweise loszukommen und sich fortan friedlich und vegetarisch zu ernähren.

Das gefressene See-Gemüse aber bekam dem Hecht nicht gut und er liess es stinkend und giftig wieder hinten raus.

Diese vegetarische Hecht-Scheisse hatte im Teich ein Fischsterben zur Folge. Vom herbeigerufenen Heiligen erwartete man eine Hilfe beim Lösen des Problems. Aber der entzog sich mit dem dreimal wiederholte Wort „heilig“, das dem katholischen Ritual beim Abendmahl, dem Sanctus entstammen.

Sprachliche, metrische und rhythmische Bemerkungen

Jambus ist der Rhythmus des Gedichtes und er wird fast durchgängig eingehalten. Er gibt den Versen den Eindruck eines monotonen Fortschreitens und verleiht ihm etwas Leierkastenhaftes.

Die verwendeten Wörter markieren den grossen Widerspruch zwischen dem Heiligen und der Scheisse: „sich moralisch emporzuranken) steht neben dem Ekelerregendem „oh Graus“, „hinten raus“ und „verreckt“.

Der Reim ist einfach: AABB CCDD etc. Vielleicht soll er das Bänkelhafte zeigen, die Einfachheit des Spottgedichts.

Gedanken zum Gedicht

Die Moral des Heiligen steht am Anfang da. Alles soll sich zum Edlen, zum moralisch Hochstehenden hoch entwickeln. Auch der mörderische, jagende Hecht.

Der Hecht versucht, sich gegen seine Natur zu verändern. Was passiert? Er versucht es und erzeugt dabei den widerlichsten Schiss, der den ganzen Teich, d.h. sein ganzes Umfeld verseucht.

Wenn nun der heilige Anton Hilfe leisten soll, dann zeigt er sich unfähig. In gänzlicher Überforderung kann er nur sinnlose Worte wie heilig äussern.

Will uns Morgenstern damit sagen, dass die moralischen Instanzen wie die Kirche die Menschen oft dazu verleitet, gegen ihre Natur sich zu entwickeln? Will er sagen, dass die Kirche uns oft überfordert in ihren Forderungen? Verlangt sie von uns Widernatürliches?

Priester kennen das Zölibat. Sie sind gleichsam mit Jesus „verheiratet“. Könnten die heute zahlreich bekannt gewordenen sexuellen Übergriffe in katholischen Instituten ein Hinweis darauf sein, dass die erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit für gewisse Menschen gegen ihre Natur ist?

 

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