Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus – 1916

Wladimir Iljitsch Lenin

Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus

Gemeinverständlicher Abriss

Geschrieben Januar-Juni 1916.

Zuerst veröffentlicht Mitte 1917 als Broschüre in Petrograd vom Verlag „Shisn i Snanije“; das Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe 1921 in der Zeitschrift „Kommunistitscheski Internazional“ Nr. 18.

http://www.mlwerke.de/le/le22/le22_189.htm

Inhalt

Vorwort

Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe.

Vorbemerkung.

  1. Konzentration der Produktion und Monopole.
  2. Die Banken und ihre neue Rolle.

III. Finanzkapital und Finanzoligarchie.

  1. Der Kapitalexport
  2. Die Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände.
  3. Die Aufteilung der Welt unter die Grossmächte.

VII. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus.

VIII. Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus.

  1. Kritik des Imperialismus.
  2. Der Platz des Imperialismus in der Geschichte.

Vorwort

Die Schrift, die ich hiermit dem Leser vorlege, ist im Frühjahr 1916 in Zürich verfasst worden. Bei den dortigen Arbeitsbedingungen litt ich natürlich unter einem gewissen Mangel an französischer und englischer und einem sehr grossen Mangel an russischer Literatur. Das englische Hauptwerk über den Imperialismus, das Buch von J. A. Hobson, habe ich jedoch mit der Aufmerksamkeit verwertet, die diese Arbeit meiner Überzeugung nach verdient.

Die Schrift ist im Hinblick auf die zaristische Zensur abgefasst. Aus diesem Grunde war ich nicht nur genötigt, mich strengstens auf die ausschliesslich theoretische – insbesondere die ökonomische – Analyse zu beschränken, sondern auch die wenigen notwendigen Bemerkungen über die Politik mit grösster Vorsicht zu formulieren, Andeutungen zu machen, mich der äsopischen Sprache zu bedienen, der verfluchten äsopischen Sprache, zu welcher der Zarismus alle Revolutionäre zwang, sobald sie die Feder in die Hand nahmen, um ein „legales“ Werk zu schreiben.

Es fällt schwer, jetzt, in den Tagen der Freiheit, diese durch die Rücksicht auf die zaristische Zensur entstellten, zusammengequetschten, in einen eisernen Schraubstock gepressten Stellen der Broschüre wieder zu lesen. Dass der Imperialismus der Vorabend der sozialistischen Revolution ist, dass der Sozialchauvinismus (Sozialismus in Worten, Chauvinismus in Taten) gleichbedeutend ist mit dem völligen Verrat am Sozialismus, mit dem vollständigen Übergang auf die Seite der Bourgeoisie, dass diese Spaltung der Arbeiterbewegung im Zusammenhang steht mit den objektiven Bedingungen des Imperialismus u.dgl.m. – darüber musste ich in einer „Sklaven“-sprache reden, und so bin ich genötigt, den Leser, der sich für die Frage interessiert, auf den bald erscheinenden Neudruck meiner im Ausland geschriebenen Artikel aus den Jahren 1914-1917 zu verweisen. Es sei besonders eine Stelle auf den Seiten 119/120 |siehe Seite 30 hervorgehoben: Um in zensurfähiger Form dem Leser klarzumachen, wie schamlos die Kapitalisten und die auf ihre Seite übergegangenen Sozialchauvinisten (gegen die Kautsky so inkonsequent kämpft) in der Frage der Annexionen lügen, wie schamlos sie die Annexionen ihrer Kapitalisten bemänteln, war ich gezwungen als Beispiel Japan zu wählen! Der aufmerksame Leser wird mit Leichtigkeit an Stelle Japans Russland setzen und an Stelle Koreas Finnland, Polen, Kurland, die Ukraine, Chiwa, Buchara, Estland und die anderen nicht von Grossrussen besiedelten Gebiete.

Ich möchte hoffen, dass meine Schrift dazu beitragen wird, sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im Geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus.

Der Verfasser

Petrograd, 26, April 1917

Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe

I

Die vorliegende Schrift ist, wie im Vorwort zur russischen Ausgabe erwähnt, 1916 im Hinblick auf die zaristische Zensur verfasst worden. Ich habe nicht die Möglichkeit, gegenwärtig den ganzen Text umzuarbeiten, überdies dürfte das wohl auch unzweckmässig sein, denn die Hauptaufgabe des Buches bleibt nach wie vor, an Hand von zusammenfassenden Daten unbestrittener bürgerlicher Statistiken und von Zeugnissen bürgerlicher Gelehrter aller Länder zu zeigen, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, am Vorabend des ersten imperialistischen Weltkriegs, das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen war.

Einesteils dürfte es für viele Kommunisten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern sogar von Nutzen sein, sich am Beispiel dieser vom Standpunkt der zaristischen Zensur legalen Schrift davon zu überzeugen, dass es möglich und notwendig ist, selbst die geringen Überreste von Legalität, die den Kommunisten beispielsweise im heutigen Amerika oder in Frankreich nach den jüngsten Verhaftungen fast aller Kommunisten noch verbleiben, dazu auszunutzen, die ganze Verlogenheit der sozialpazifistischen Ansichten und Hoffnungen auf die „Weltdemokratie“ aufzudecken. In diesem Vorwort will ich versuchen, die notwendigsten Ergänzungen zu dieser Schrift, die der Zensur unterlag, zu geben.

II

In der Schrift wird der Beweis erbracht, dass der Krieg von 1914-1918 auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg (d.h. ein Eroberungskrieg, ein Raub- und Plünderungskrieg) war, ein Krieg um die Aufteilung der Welt, um die Verteilung und Neuverteilung der Kolonien, der „Einflusssphären“ des Finanzkapitals usw.

Denn der Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharakter eines Krieges ist selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen, sondern in der Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten), sondern man muss unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.

Gerade solche unwiderlegbaren zusammenfassenden Daten habe ich bei der Schilderung der Verteilung der Welt in den Jahren 1876 und 1914 (im Kapitel VI) und der Verteilung der Eisenbahnen der ganzen Welt in den Jahren 1890 und 1913 (im Kapitel VII) angeführt. Die Eisenbahnen sind Ergebnisse der Hauptzweige der kapitalistischen Industrie, der Kohlen- und Eisenindustrie – Ergebnisse und zugleich anschaulichste Gradmesser der Entwicklung des Welthandels und der bürgerlich-demokratischen Zivilisation. Wie die Eisenbahnen mit der Grossindustrie, mit den Monopolen, den Syndikaten, den Kartellen, den Trusts, den Banken, mit der Finanzoligarchie verbunden sind, das ist in den vorhergehenden Kapiteln des Buches gezeigt. Die Verteilung des Eisenbahnnetzes, die Ungleichmässigkeit dieser Verteilung, die Ungleichmässigkeit seiner Entwicklung – das sind Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmassstab. Und diese Ergebnisse zeigen, dass auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind.

Der Bau von Eisenbahnen scheint ein einfaches, natürliches, demokratisches, kulturelles, zivilisatorisches Unternehmen zu sein: Ein solches ist er in den Augen der bürgerlichen Professoren, die für die Beschönigung der kapitalistischen Sklaverei bezahlt werden, und in den Augen der kleinbürgerlichen Philister. In Wirklichkeit haben die kapitalistischen Fäden, durch die diese Unternehmungen in tausendfältigen Verschlingungen mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln überhaupt verknüpft sind, diesen Bau in ein Werkzeug zur Unterdrückung von einer Milliarde Menschen (in den Kolonien und Halbkolonien), d.h. von mehr als der Hälfte der Erdbevölkerung in den abhängigen Ländern, und der Lohnsklaven des Kapitals in den „zivilisierten“ Ländern verwandelt.

Auf der Arbeit des Kleinproduzenten beruhendes Privateigentum, freie Konkurrenz, Demokratie – alle diese Schlagworte, mit denen die Kapitalisten und ihre Presse die Arbeiter und Bauern betrügen, liegen weit zurück. Der Kapitalismus ist zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergrossen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener“ Länder geworden. Und in diese „Beute“ teilen sich zwei, drei weltbeherrschende, bis an die Zähne bewaffnete Räuber (Amerika, England, Japan), die die ganze Welt in ihren Krieg um die Teilung ihrer Beute mit hineinreissen.

III

Der Frieden von Brest-Litowsk, von dem monarchistischen Deutschland diktiert, und dann der weitaus bestialischere und niederträchtigere Frieden von Versailles, von „demokratischen“ Republiken, Amerika und Frankreich, sowie vom „freien“ England diktiert, haben der Menschheit einen überaus nützlichen Dienst geleistet, indem sie sowohl die gedungenen Tintenkulis des Imperialismus entlarvten wie auch die reaktionären Spiesser – mögen diese sich auch Pazifisten und Sozialisten nennen -, die den „Wilsonismus“ priesen und zu beweisen suchten, dass unter dem Imperialismus Frieden und Reformen möglich seien.

Dutzende Millionen von Leichen und Krüppeln, die der Krieg hinterliess – ein Krieg, der darum geführt wurde, ob die englische oder die deutsche Gruppe von Finanzräubern einen grösseren Teil der Beute erhalten soll -, und dann diese beiden „Friedensverträge“ öffnen mit einer bisher ungekannten Schnelligkeit Millionen und aber Millionen durch die Bourgeoisie eingeschüchterter, niedergehaltener, betrogener und betörter Menschen die Augen. Auf dem Boden des durch den Krieg hervorgerufenen Ruins in der ganzen Welt erwächst somit die weltweite revolutionäre Krise, die, welch lange und schwere Wandlungen sie auch durchmachen mag, nicht anders enden kann als mit der proletarischen Revolution und deren Sieg.

Das Basler Manifest der II Internationale, das 1912 eine Einschätzung nicht des Krieges überhaupt (es gibt verschiedene Kriege, es gibt auch revolutionäre Kriege), sondern gerade desjenigen Krieges gab, der 1914 ausbrach, dieses Manifest ist uns als Denkmal, das den ganzen schmachvollen Bankrott, das ganze Renegatentum der Helden der II. Internationale anprangert, erhalten geblieben.

Ich bringe deshalb dieses Manifest im Anhang zu der vorliegenden Ausgabe und mache die Leser eindringlich darauf aufmerksam, dass die Helden der II. Internationale alle jene Stellen des Manifests geflissentlich umgehen, wo von dem Zusammenhang eben dieses kommenden Krieges mit der proletarischen Revolution präzis, klar und direkt die Rede ist – sie ebenso geflissentlich umgehen, wie ein Dieb die Stelle meidet, wo er gestohlen hat.

IV

Besondere Aufmerksamkeit ist in der vorliegenden Schrift der Kritik des „Kautskyanertums“ gewidmet, jener internationalen geistigen Strömung, die in allen Ländern der Welt von den „angesehensten Theoretikern“, den Führern der II. Internationale (Otto Bauer und Co. in Österreich, Ramsay MacDonald u.a. in England, Albert Thomas in Frankreich usw. usf.) samt einer Unmenge von Sozialisten, Reformisten, Pazifisten, bürgerlichen Demokraten und Pfaffen vertreten wird.

Diese geistige Strömung ist einerseits ein Produkt der Zersetzung, der Verwesung der II. Internationale und anderseits die unvermeidliche Frucht der Ideologie von Kleinbürgern, die infolge ihrer ganzen Lebenslage im Bann bürgerlicher und demokratischer Vorurteile befangen sind.

Bei Kautsky und seinesgleichen bedeuten derartige Ansichten den vollständigen Verzicht gerade auf die revolutionären Grundlagen des Marxismus, die dieser Schriftsteller jahrzehntelang, übrigens besonders im Kampfe gegen den sozialistischen Opportunismus (von Bernstein, Millerand, Hyndman, Gompers u.a.) verteidigt hat. Es ist daher kein Zufall, dass sich die „Kautskyaner“ jetzt in der ganzen Welt praktisch-politisch mit den extremen Opportunisten (durch die II. oder gelbe Internationale) und mit den bürgerlichen Regierungen (durch die bürgerlichen Koalitionsregierungen unter Teilnahme von Sozialisten) vereinigt haben.

Die in der ganzen Welt anwachsende proletarische revolutionäre Bewegung im allgemeinen und kommunistische Bewegung im Besonderen kann der Analyse und Aufdeckung der theoretischen Fehler des „Kautskyanertums“ nicht entraten. Das gilt umso mehr, als die Strömungen des Pazifismus und des „Demokratismus“ schlechthin, die nicht im Geringsten den Anspruch erheben, marxistisch zu sein, die aber genauso wie Kautsky und Co. die Tiefe der Widersprüche des Imperialismus und die Unvermeidlichkeit der durch ihn erzeugten revolutionären Krise vertuschen – als diese Strömungen in der ganzen Welt noch ausserordentlich stark verbreitet sind. Und der Kampf gegen diese Strömungen ist Pflicht der Partei des Proletariats, die der Bourgeoisie die von ihr betörten Kleinproduzenten und die Millionen der in mehr oder weniger kleinbürgerliche Lebensverhältnisse versetzten Werktätigen entreissen muss.

V

Einige Worte müssen über das Kapitel VIII: „Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus“ gesagt werden. Wie schon im Text des Buches vermerkt ist, hat Hilferding, der ehemalige „Marxist“, aber jetzige Mitstreiter Kautskys und einer der Hauptrepräsentanten der bürgerlichen, reformistischen Politik in der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“, in dieser Frage im Vergleich zu dem offenen Pazifisten und Reformisten, dem Engländer Hobson, einen Schritt zurückgetan. Die internationale Spaltung der gesamten Arbeiterbewegung ist jetzt schon ganz offen zutage getreten (II. und III. Internationale). Auch die Tatsache des bewaffneten Kampfes und des Bürgerkriegs zwischen den beiden Richtungen ist zutage getreten: in Russland Unterstützung Koltschaks und Denikins durch die Menschewiki und „Sozialrevolutionäre“ gegen die Bolschewiki, in Deutschland die Scheidemann samt Noske und Co. mit der Bourgeoisie gegen die Spartakusleute, desgleichen in Finnland, Polen, Ungarn usw. Was ist nun die ökonomische Grundlage dieser weltgeschichtlichen Erscheinung?

Es sind eben der Parasitismus und die Fäulnis des Kapitalismus, die seinem höchsten geschichtlichen Stadium, d.h. dem Imperialismus, eigen sind. Wie in der vorliegenden Schrift nachgewiesen ist, hat der Kapitalismus jetzt eine Handvoll (weniger als ein Zehntel der Erdbevölkerung, ganz „freigebig“ und übertrieben gerechnet, weniger als ein Fünftel) besonders reicher und mächtiger Staaten hervorgebracht, die durch einfaches „Kuponschneiden“ die ganze Welt ausplündern. Der Kapitalexport ergibt Einkünfte von 8-10 Milliarden Francs jährlich, und zwar nach den Vorkriegspreisen und der bürgerlichen Vorkriegsstatistik. Gegenwärtig ist es natürlich viel mehr.

Es ist klar, dass man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres „eigenen“ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der „fortgeschrittenen“ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.

Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der „Arbeiteraristokratie“, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspiessert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirkliche Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung, Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse (labor lieutenants of the capitalist class), wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie, auf die Seite der „Versailler“ gegen die „Kommunarden“.

Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.

Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats. Das hat sich seit 1917 im Weltmassstab bestätigt.

  1. Juli 1920
  2. Lenin

 

 

Vorbemerkung

In den letzten 15-20 Jahren, besonders nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) und dem Burenkrieg (1899-1902), verwendet die ökonomische sowie die politische Literatur der Alten und der Neuen Welt immer häufiger den Begriff „Imperialismus“, um die Epoche, in der wir leben, zu charakterisieren. Im Jahre 1902 erschien in London und New York das Werk des englischen Ökonomen J. A. Hobson „Imperialismus“. Der Verfasser, der den Standpunkt des bürgerlichen Sozialreformismus und Pazifismus vertritt – einen Standpunkt, der im Grunde genommen mit der jetzigen Stellung des ehemaligen Marxisten K. Kautsky übereinstimmt -, gibt eine sehr gute und ausführliche Beschreibung der grundlegenden ökonomischen und politischen Besonderheiten des Imperialismus. Im Jahre 1910 erschien in Wien das Werk des österreichischen Marxisten Rudolf Hilferding „Das Finanzkapital“ (russische Übersetzung Moskau 1912). Obwohl der Autor in der Geldtheorie irrt und eine gewisse Neigung zeigt, den Marxismus mit dem Opportunismus zu versöhnen, ist dieses Werk eine höchst wertvolle theoretische „Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus“, wie der Untertitel des Hilferdingschen Buches lautet. Im Grunde genommen geht das, was in den letzten Jahren über den Imperialismus gesagt wurde – insbesondere in sehr zahlreichen Zeitschriften und Zeitungsartikeln zu diesem Thema und ebenso in Resolutionen, z.B. der im Herbst 1912 abgehaltenen Kongresse von Chemnitz und Basel – kaum über den Kreis der Ideen hinaus, die von den beiden genannten Autoren dargelegt oder vielmehr zusammengefasst worden sind …

Im Folgenden wollen wir versuchen, den Zusammenhang und das Wechselverhältnis der grundlegenden ökonomischen Besonderheiten des Imperialismus in aller Kürze und in möglichst gemeinverständlicher Form darzustellen. Auf die nichtökonomische Seite der Frage werden wir nicht so eingehen können, wie sie es verdienen würde. Literaturangaben und andere Hinweise, für die nicht alle Leser Interesse haben dürften, bringen wir am Schluss der Broschüre.

 

 

I. Konzentration der Produktion und Monopole

Das ungeheure Wachstum der Industrie und der auffallend rasche Prozess der Konzentration der Produktion in immer grösseren Betrieben ist eine der charakteristischen Besonderheiten des Kapitalismus. Die modernen Betriebszählungen liefern uns über diesen Prozess die vollständigsten und genauesten Daten.

In Deutschland z B. waren von je tausend Industrieunternehmungen Grossbetriebe, d.h. Betriebe mit mehr als 50 Lohnarbeitern: im Jahre 1882 – 83, im Jahre 1895 – 96 und im Jahre 1907 – 09. Von je hundert Arbeitern entfielen auf diese Betriebe: 22, 30 und 37. Aber die Konzentration der Produktion ist viel stärker als die Konzentration der Arbeiter, denn die Arbeit ist in den Grossbetrieben viel produktiver. Darauf weisen die Daten über Dampfmaschinen und elektrische Motoren hin. Ziehen wir in Betracht, was man in Deutschland als Industrie im weiteren Sinne bezeichnet, d.h., schliessen wir auch den Handel, das Verkehrswesen usw. ein, so erhalten wir folgendes Bild: Von den 3’265’623 Unternehmungen Deutschlands sind 30.588, d.h. nur 0,9%, Grossbetriebe. Auf sie entfallen von 14,4 Millionen Arbeitern 5,7 Mill., d.h. 39,4%; von den 8,8 Mill. Pferdestärken der Dampfmaschinen 6,6 Mill., d.h. 75,3% von den 1,5 Mill. Kilowatt elektrischer Energie 1,2 Mill. Kilowatt, d.h. 77,2%.

Weniger als ein Hundertstel der Betriebe verfügt über mehr als drei Viertel der gesamten Dampf- und Elektrizitätskraft. Auf die 2,97 Mill. Kleinbetriebe (mit höchstens 5 Lohnarbeitern), die 91% der Gesamtzahl der Betriebe ausmachen, entfallen im Ganzen 7% der Dampf- und Elektrizitätskraft. Einige zehntausend Grossbetriebe sind alles; Millionen von Kleinbetrieben sind nichts.

Betriebe mit 1.000 und mehr Arbeitern gab es 1907 in Deutschland 586. Diese beschäftigten fast ein Zehntel (1,38 Mill.) der Gesamtzahl der Arbeiter und verfügten über nahezu ein Drittel (32%) aller Dampf- und Elektrizitätskraft. (1) Das Geldkapital und die Banken machen, wie wir sehen werden, dieses Übergewicht eines Häufleins von Grossbetrieben noch erdrückender, und zwar im buchstäblichen Sinne des Wortes, d.h., Millionen kleiner, mittlerer und sogar zum Teil grosser „Unternehmer“ sind in Wirklichkeit von einigen hundert Millionären der Hochfinanz völlig unterjocht.

In einem anderen fortgeschrittenen Land des modernen Kapitalismus, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wächst die Konzentration der Produktion noch stärker. Hier sondert die Statistik die Industrie im engeren Sinne aus und gruppiert die Betriebe nach dem Wert ihrer Jahresproduktion. 1904 gab es an Grossbetrieben mit einer Jahresproduktion von 1 Million Dollar und darüber 1.900 (von 216.180, d.h. 0,9%); auf sie entfielen 1,4 Mill. Arbeiter (von 5,5 Mill., d.h. 25,6%) und 5,6 Milliarden der Jahresproduktion (von 14,8 Milliarden, d.h. 38%), Fünf Jahre später, im Jahre 1909, lauteten die entsprechenden Zahlen: 3.060 Betriebe (von 268.491, d.h. 1,1%) mit 2 Mill. Arbeitern (von 6,6 Mill., d.h. 30,5%) und 9 Milliarden Jahresproduktion (von 20,7 Milliarden, d.h. 43,8%). (2)

Fast die Hälfte der Gesamtproduktion aller Betriebe des Landes liegt in den Händen eines Hundertstels der Gesamtzahl der Betriebe! Und diese dreitausend Riesenbetriebe umfassen 258 Industriezweige. Daraus erhellt, dass die Konzentration auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung sozusagen von selbst dicht an das Monopol heranführt. Denn einigen Dutzend Riesenbetrieben fällt es leicht, sich untereinander zu verständigen, während anderseits gerade durch das Riesenausmass der Betriebe die Konkurrenz erschwert und die Tendenz zum Monopol erzeugt wird. Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen – wenn nicht die wichtigste – in der Ökonomik des modernen Kapitalismus, und wir müssen daher ausführlicher darauf eingehen. Doch zuerst muss ein mögliches Missverständnis beseitigt werden.

Die amerikanische Statistik besagt: 3.000 Riesenbetriebe in 250 Industriezweigen. Demnach kämen im Ganzen je 12 Betriebe grössten Ausmasses auf jeden Industriezweig.

Dem ist aber nicht so. Nicht in jedem Industriezweig gibt es Grossbetriebe; und anderseits ist eine äusserst wichtige Besonderheit des Kapitalismus, der die höchste Entwicklungsstufe erreicht hat, die sogenannte Kombination, d.h. die Vereinigung verschiedener Industriezweige in einem einzigen Unternehmen; diese Industriezweige bilden entweder aufeinanderfolgende Stufen der Verarbeitung des Rohstoffs (z.B. Gewinnung von Roheisen aus Erz, seine Verarbeitung zu Stahl und unter Umständen auch die Erzeugung dieser oder jener Stahlfabrikate) oder spielen in bezug aufeinander eine Hilfsrolle (z.B. Verarbeitung von Abfällen oder Nebenprodukten; Herstellung von Verpackungsmaterial usw.).

„… die Kombination“, schreibt Hilferding, „gleicht Konjunkturunterschiede aus und bewirkt daher für das kombinierte Werk eine grössere Stetigkeit der Profitrate. Zweitens bewirkt die Kombination Ausschaltung des Handels. Drittens bewirkt sie die Möglichkeit technischer Fortschritte und damit die Erlangung von Extraprofit gegenüber dem ‚reinen'“ (d.h. nicht kombinierten) „Werk. Viertens stärkt sie die Stellung des kombinierten Werkes gegenüber dem ‚reinen‘ im Konkurrenzkampf zur Zeit einer starken Depression“ (Geschäftsstockung, Krise), „wenn die Senkung der Rohmaterialpreise nicht Schritt hält mit der Senkung der Fabrikatspreise.“(3)

Der deutsche bürgerliche Ökonom Heymann, der der Schilderung der „gemischten“, d.h. kombinierten Werke in der deutschen Eisenindustrie eine besondere Schrift gewidmet hat sagt: „Die reinen Werke werden zwischen hohen Material- und niedrigen Fabrikatspreisen zerquetscht.“ Es ergibt sich folgendes Bild: „Übriggeblieben sind auf der einen Seite die grossen Kohlengesellschaften mit einer Förderung, die in die Millionen Tonnen Kohle geht, fest organisiert in ihrem Kohlensyndikat, und eng verbunden mit ihnen die grossen Stahlwerke und ihr Stahlsyndikat. Diese Riesenunternehmungen mit 400’000 t Stahlproduktion im Jahr, entsprechender Ausdehnung der Kohlen-, Erz- und Hochofenbetriebe wie der Fertigfabrikation, mit 10.000 Arbeitern, die in Werkskolonien kaserniert sind, ja zum Teil mit eigenen Bahnen und Häfen, diese Riesenunternehmungen sind heute der rechte Typus des deutschen Eisenwerks. Und immer weiter schreitet die Konzentration vorwärts. Der einzelne Betrieb wird stetig grösser; immer mehr Betriebe der gleichen oder verschiedener Art ballen sich zu Riesenunternehmungen zusammen, die in einem halben Dutzend Berliner Grossbanken ihre Stützen und ihre Leiter finden. Für die Montanindustrie ist die Richtigkeit der Konzentrationslehre von Karl Marx exakt nachgewiesen, jedenfalls in einem Land, in dem sie, wie bei uns, durch Zölle und Frachttarife geschützt wird. Die Montanindustrie Deutschlands ist reif zur Expropriation.“(4)

Zu diesem Schluss musste ein ausnahmsweise gewissenhafter bürgerlicher Ökonom kommen. Es sei bemerkt, dass er Deutschland in Anbetracht der hohen Industrieschutzzölle eine gewisse Sonderstellung einräumt. Aber dieser Umstand konnte die Konzentration und die Bildung von monopolistischen Unternehmerverbänden, Kartellen, Syndikaten usw. nur beschleunigen. Es ist ausserordentlich wichtig, dass im Lande des Freihandels, in England, die Konzentration ebenfalls zum Monopol führt, wenn auch etwas später und vielleicht in anderer Form. So schreibt Professor Hermann Levy in einer speziellen Untersuchung über „Monopole, Kartelle und Trusts“ auf Grund der Daten über die wirtschaftliche Entwicklung Grossbritanniens:

„In Grossbritannien ist es die Grösse der Unternehmung und ihre Leistungsfähigkeit, welche eine monopolistische Tendenz in sich trägt. Dies einmal dadurch, dass die grossen Kapitalinvestitionen pro Unternehmung, sobald einmal die Konzentrationsbewegung eingesetzt hat, wachsende Anforderungen an die Kapitalbeschaffung neuer Unternehmungen stellen und damit ihr Aufkommen erschweren. Weiter aber (und dies scheint uns der wichtigste Punkt zu sein) repräsentiert jede neue Unternehmung, welche mit den auf Grund des Konzentrationsprozesses entstandenen Riesenunternehmungen Schritt halten will, ein so grosses Mehrangebot von Produkten, dass sie, um diese abzusetzen, entweder nur bei einer enorm wachsenden Nachfrage mit Nutzen verkaufen könnte oder aber sofort die Preise auf ein für sie wie für die Monopolvereinigungen unrentables Niveau drücken würde. Zum Unterschied von anderen Ländern, wo die Schutzzölle die Kartellbildung erleichtern, entstehen in England monopolistische Unternehmerverbände, Kartelle und Trusts in der Regel nur dann, wenn die Zahl der wichtigsten konkurrierenden Unternehmungen ’nicht mehr als ein paar Dutzend‘ ausmacht. Hier allein tritt für ein ganzes Wirtschaftsgebiet der Einfluss der Konzentrationsbewegung auf die grossindustrielle Monopolorganisation in kristallisierter Reinheit zutage.“(5)

Vor einem halben Jahrhundert, als Marx sein „Kapital“ schrieb, erschien der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen die freie Konkurrenz als ein „Naturgesetz“. Die offizielle Wissenschaft versuchte das Werk von Marx totzuschweigen, der durch seine theoretische und geschichtliche Analyse des Kapitalismus bewies, dass die freie Konkurrenz die Konzentration der Produktion erzeugt, diese Konzentration aber auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung zum Monopol führt. Das Monopol ist jetzt zur Tatsache geworden. Die Ökonomen schreiben Berge von Büchern, beschreiben die einzelnen Erscheinungsformen des Monopols und verkünden nach wie vor einstimmig, dass der „Marxismus widerlegt“ sei. Aber Tatsachen sind ein hartnäckiges Ding, sagt ein englisches Sprichwort, und man muss ihnen wohl oder übel Rechnung tragen. Die Tatsachen zeigen, dass die Unterschiede zwischen einzelnen kapitalistischen Ländern, z.B. in Bezug auf Schutzzoll oder Freihandel, bloss unwesentliche Unterschiede in der Form der Monopole oder in der Zeit ihres Aufkommens bedingen, während die Entstehung der Monopole infolge der Konzentration der Produktion überhaupt ein allgemeines Grundgesetz des Kapitalismus in seinem heutigen Entwicklungsstadium ist.

Für Europa lässt sich die Zeit der endgültigen Ablösung des alten Kapitalismus durch den neuen ziemlich genau feststellen. Es ist der Anfang des 20. Jahrhunderts. In einer der neuesten zusammenfassenden Arbeiten über die Geschichte der „Monopolbildung“ lesen wir:

„Man kann aus der Zeit vor 1860 einzelne Beispiele kapitalistischer Monopole anführen; man kann in ihnen den Ansatz zu den Formen entdecken, die uns heute so geläufig geworden sind; aber all das ist durchaus Vorgeschichte. Der eigentliche Beginn der modernen Monopole liegt allerfrühestens in den sechziger Jahren. Ihre erste grosse Entwicklungsperiode hebt mit der internationalen Depression der siebziger Jahre an und reicht bis zum Beginn der neunziger Jahre … Europäisch betrachtet, kulminiert die freie Konkurrenz in den sechziger und siebziger Jahren. Damals beendete England den Ausbau seiner kapitalistischen Organisation alten Stils. In Deutschland drang sie kräftig vor gegen Handwerk und Hausindustrie und begann, sich ihre Daseinsform zu schaffen.“

„Die grosse Umwälzung beginnt mit dem Krach von 1873 oder richtiger mit der ihm folgenden Depression, die mit einer kaum merklichen Unterbrechung anfangs der achtziger Jahre und einem ungewöhnlich heftigen, aber kurzen ‚boom‘ um das Jahr 1889 herum 22 Jahre europäischer Wirtschaftsgeschichte ausmacht … In der kurzen Hausseperiode von 1889/90 bediente man sich in starkem Masse der Kartellordnung zur Ausnützung der Konjunktur. Eine wenig überlegte Politik trieb die Preise noch schneller und noch stärker in die Höhe, als es vielleicht schon sonst geschehen wäre, und fast alle diese Verbände endeten ruhmlos im ‚Graben des Kraches‘. Noch ein weiteres Lustrum schlechter Beschäftigung und niedriger Preise folgte, aber es war nicht mehr dieselbe Stimmung, die in der Industrie herrschte. Man sah die Depression nicht mehr wie etwas Selbstverständliches an, sondern hielt sie nur für eine Ruhepause vor einer neuen günstigen Konjunktur.

So trat die Kartellbewegung in ihre zweite Epoche. Statt einer vorübergehenden Erscheinung werden die Kartelle eine der Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens. Sie erobern sich ein Gebiet nach dem anderen, vor allem aber die Rohstoffindustrie. Schon zu Anfang der neunziger Jahre fanden sie in der Organisation des Kokssyndikats, dem dann das Kohlensyndikat nachgebildet wird, eine Verbandstechnik, über die man kaum wesentlich herausgekommen ist. Der grosse Aufschwung zu Ende des 19. Jahrhunderts und die Krisis von 1900-1903 stehen wenigstens in der Montan- und Hüttenindustrie zum ersten Male ganz im Zeichen der Kartelle. Und wenn man das damals noch als etwas Neuartiges ansah, so ist es dem Allgemeinbewusstsein inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden, dass grosse Teile des Wirtschaftslebens der freien Konkurrenz regelmässig entzogen sind.“(6)

Die wichtigsten Ergebnisse der Geschichte der Monopole sind demnach: 1. In den sechziger und siebziger Jahren des 19 Jahrhunderts die höchste, äusserste Entwicklungsstufe der freien Konkurrenz; kaum merkliche Ansätze zu Monopolen. 2. Nach der Krise von 1873 weitgehende Entwicklung von Kartellen, die aber noch Ausnahmen, keine dauernden, sondern vorübergehende Erscheinungen sind. 3. Aufschwung am Ende des 19. Jahrhunderts und Krise von 1900 – 1903: Die Kartelle werden zu einer der Grundlagen des ganzen Wirtschaftslebens. Der Kapitalismus ist zum Imperialismus geworden.

Die Kartelle vereinbaren Verkaufsbedingungen, Zahlungstermine u.a. Sie verteilen die Absatzgebiete untereinander. Sie bestimmen die Menge der zu erzeugenden Produkte. Sie setzen die Preise fest. Sie verteilen den Profit unter die einzelnen Unternehmungen usw.

Die Zahl der Kartelle in Deutschland wurde 1896 ungefähr auf 250, 1905 auf 385 mit etwa 12.000 Betrieben geschätzt. (7) Allgemein wird jedoch anerkannt, dass diese Zahlen zu niedrig gegriffen sind. Aus den oben angeführten Daten der deutschen Betriebszählung von 1907 geht hervor, dass schon die 12.000 grössten Betriebe sicherlich mehr als die Hälfte der gesamten Dampf- und Elektrizitätskraft in sich vereinigen. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wurde die Zahl der Trusts 1900 auf 185, 1907 auf 250 geschätzt. Die amerikanische Statistik teilt alle Industriebetriebe in Gruppen ein, je nachdem, ob sie Einzelpersonen, Firmen oder Gesellschaften gehören. Letzteren gehörten 1904 23,6% und 1909 25,9%, d.h. mehr als ein Viertel aller Betriebe. In diesen Werken waren 1904 70,6% und 1909 75,6% aller Arbeiter, drei Viertel der Gesamtzahl, beschäftigt; die Produktion belief sich auf 10,9 bzw. 16,3 Milliarden Dollar, d.h. 73,7% bzw. 79,9% der Gesamtproduktion.

Die Kartelle und Trusts vereinigen vielfach sieben bis acht Zehntel der Gesamtproduktion des betreffenden Industriezweiges in ihren Händen. Im Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat waren bei seiner Gründung im Jahre 1893 86,7% und im Jahre 1910 bereits 95,4% der gesamten Kohlenförderung des Gebiets konzentriert. (8) Das auf diese Weise entstehende Monopol gewährleistet Riesengewinne und führt zur Bildung technischer Produktionseinheiten von unermesslichem Umfang. Der berühmte Petroleumtrust in den Vereinigten Staaten (die Standard Oil Company) wurde 1900 gegründet. „Ihr autorisiertes Kapital beträgt 150 Millionen $, ausgegeben sind 400 Millionen $ common (gewöhnliche) und 106 Millionen $ preferred (Vorzugs-) Aktien, und es sind darauf von 1900 bis 1907 folgende Dividenden bezahlt worden: 48, 48, 45, 44, 36, 40, 40, 49%, im Ganzen 367 Millionen $. Seit 1882 bis Ende 1907 wurden aus 889 Millionen $ erzielten Reingewinns 606 Millionen $ Dividenden verteilt, der Rest den Reserven zugeführt.“(9) „1907 waren auf sämtlichen Werken des Stahltrust (United States Steel Corporation) nicht weniger als 240.180 Arbeiter und Angestellte beschäftigt … Das grösste Unternehmen der deutschen Montanindustrie, die Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft, hatte 1908 46.048 Arbeiter und Angestellte.“(10) Schon 1902 produzierte der Stahltrust 9 Millionen Tonnen Stahl. (11) Seine Stahlproduktion belief sich 1901 auf 66,3% und 1908 auf 56,4% der gesamten Stahlproduktion der Vereinigten Staaten (12), seine Erzförderung betrug in den gleichen Jahren 43,9 bzw. 46,3%.

Ein Bericht der amerikanischen Regierungskommission über die Trusts besagt: „Die Überlegenheit der Stellung des Trusts gegenüber seinen Wettbewerbern beruht auf der Grösse seiner Betriebe und ihrer vortrefflichen technischen Ausstattung. Seit seiner Gründung hat der Tabaktrust es sich angelegen sein lassen, alle Handarbeit im weitestgehenden Masse durch Maschinen zu ersetzen. Er hat zu diesem Zweck alle Patente erworben, welche irgendwie auf die Tabakaufbereitung Bezug hatten, und ungeheure Summen dafür aufgewendet. Viele Patente waren anfangs nicht brauchbar und mussten erst durch die Ingenieure des Trusts entwickelt werden. Ende 1906 wurden zwei Tochtergesellschaften ins Leben gerufen, welche lediglich die Aufgabe haben, Patente zu erwerben. Zum nämlichen Zweck hat der Trust eigene Giessereien, Maschinenfabriken und Reparaturwerkstätten angelegt. Eines dieser Werke, in Brooklyn, beschäftigt durchschnittlich 300 Arbeiter; hier werden Erfindungen zur Herstellung von Zigaretten, kleinen Zigarren, Schnupftabak, Stanniolpackungen, Zigarettenhülsen, Schachteln usw. geprüft und wenn nötig verbessert.“(13) „Auch andere als die obengenannten Trusts beschäftigen sogenannte developing engineers“ (Entwicklungsingenieure), „welche die Aufgabe haben, neue Herstellungsverfahren zu erdenken und technische Verbesserungen auszuproben. Der Stahltrust zahlt seinen Ingenieuren und Arbeitern hohe Prämien für Erfindungen, welche geeignet sind, den technischen Gütegrad eines Betriebes zu steigern oder die Gestehungskosten zu erniedrigen.“(14)

Ähnlich ist auch das technische Vervollkommnungswesen in der deutschen Grossindustrie organisiert, z.B. in der chemischen Industrie, die sich in den letzten Jahrzehnten so riesenhaft entwickelt hat. Der Prozess der Konzentration der Produktion brachte in dieser Industrie bereits bis 1908 zwei „Haupt“-Gruppen“ hervor, die sich in ihrer Art ebenfalls dem Monopol näherten. Zuerst waren diese Gruppen „Zweiverbände“ zweier Paare von Grossbetrieben mit einem Kapital von je 20-21 Millionen Mark: einerseits die Farbwerke, vormals Meister, in Höchst am Main und Cassella in Frankfurt am Main; anderseits die Badische Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen und die Farbenfabriken, vormals Bayer, in Elberfeld. Darauf schloss 1905 die eine Gruppe und 1908 die andere eine Konvention mit noch je einem Grossbetrieb. So entstanden zwei „Dreiverbände“ mit einem Kapital von je 40-50 Millionen Mark, und zwischen diesen „Verbänden“ hat bereits eine „Annäherung“ in Form von „Verträgen“ über Preise usw. begonnen. (15)

Die Konkurrenz wandelte sich zum Monopol. Die Folge ist ein gigantischer Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. Im Besonderen wird auch der Prozess der technischen Erfindungen und Vervollkommnungen vergesellschaftet.

Das ist schon etwas ganz anderes als die alte freie Konkurrenz zersplitterter Unternehmer, die nichts voneinander wissen und für den Absatz auf unbekanntem Markte produzieren. Die Konzentration ist so weit fortgeschritten, dass man einen ungefähren Überschlag aller Rohstoffquellen (beispielsweise der Eisenerzvorkommen) in dem betreffenden Lande und sogar, wie wir sehen werden, in einer Reihe von Ländern, ja in der ganzen Welt machen kann. Ein solcher Überschlag wird nicht nur gemacht, sondern die riesigen Monopolverbände bemächtigen sich dieser Quellen und fassen sie in einer Hand zusammen. Es wird eine annähernde Berechnung der Grösse des Marktes vorgenommen, der durch vertragliche Abmachungen unter diese Verbände „aufgeteilt“ wird. Die qualifizierten Arbeitskräfte werden monopolisiert, die besten Ingenieure angestellt, man bemächtigt sich der Verkehrswege und -mittel – der Eisenbahnen in Amerika, der Schifffahrtsgesellschaften in Europa und in Amerika. In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten gewissermassen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet.

Die Produktion wird vergesellschaftet, die Aneignung jedoch bleibt privat. Die gesellschaftlichen Produktionsmittel bleiben Privateigentum einer kleinen Anzahl von Personen. Der allgemeine Rahmen der formal anerkannten freien Konkurrenz bleibt bestehen, und der Druck der wenigen Monopolinhaber auf die übrige Bevölkerung wird hundertfach schwerer, fühlbarer, unerträglicher.

Der deutsche Ökonom Kestner hat den „Kämpfen zwischen Kartellen und Aussenseitern“, d.h. Unternehmern, die dem Kartell nicht angehören, ein spezielles Werk gewidmet. Er betitelte sein Werk „Der Organisationszwang“, während man natürlich, um den Kapitalismus nicht zu beschönigen, von einem Zwang zur Unterwerfung unter die Monopolverbände sprechen müsste. Es ist lehrreich, wenigstens einen flüchtigen Blick auf die Liste der Mittel des gegenwärtigen, modernen, zivilisierten Kampfes um die „Organisation“ zu werfen, zu denen die Monopolverbände greifen: 1. die Materialsperre (mit „die wichtigste Methode des Kartellzwanges“) 2. Sperrung der Arbeitskräfte durch „Allianzen“ (d.h. Vereinbarungen zwischen Kapitalisten und Arbeiterverbänden derart, dass die Arbeiter nur in kartellierten Betrieben arbeiten dürfen) 3. Sperre der Zufuhr; 4. Sperre des Absatzes; 5. Verträge mit den Abnehmern, wonach diese ausschliesslich mit kartellierten Firmen Geschäftsverbindungen haben dürfen; 6. planmässige Preisunterbietung (um die „Aussenseiter“, d.h. die Unternehmungen, die sich den Monopolinhabern nicht unterordnen, zu ruinieren; es werden Millionen ausgegeben, um eine Zeitlang unter dem Selbstkostenpreis zu verkaufen; so kam es beispielsweise in den Benzinindustrie vor, dass die Preise von 40 auf 22 Mark, d.h. fast auf die Hälfte, herabgesetzt wurden!); 7. Sperrung des Kredits; 8. Verrufserklärung.

Wir haben es nicht mehr mit dem Konkurrenzkampf kleiner und grosser, technisch rückständiger und technisch fortgeschrittener Betriebe zu tun. Durch die Monopolinhaber werden alle diejenigen abgewürgt, die sich dem Monopol, seinem Druck, seiner Willkür nicht unterwerfen. Im Bewusstsein eines bürgerlichen Ökonomen spiegelt sich dieser Prozess folgendermassen wider:

„Auch innerhalb der rein wirtschaftlichen Tätigkeit“, schreibt Kestner, „tritt eine Verschiebung vom Kaufmännischen im früheren Sinne zum Organisatorisch-Spekulativen ein. Nicht der Kaufmann kommt am besten vorwärts, der auf Grund seiner technischen und Handelserfahrungen die Bedürfnisse der Kunden am genauesten versteht, der eine latente Nachfrage zu finden und wirksam zu erwecken vermag, sondern das spekulative Genie (?!), das die organisatorische Entwicklung, die Möglichkeit der Beziehungen zwischen den einzelnen Unternehmungen und zu den Banken vorauszuberechnen oder auch vorauszufühlen vermag.“

In eine menschliche Sprache übertragen, bedeutet das: Der Kapitalismus ist so weit entwickelt, dass die Warenproduktion, obwohl sie nach wie vor „herrscht“ und als Grundlage der gesamten Wirtschaft gilt, in Wirklichkeit bereits untergraben ist und die Hauptprofite den „Genies“ der Finanzmachenschaften zufallen. Diesen Machenschaften und Schwindeleien liegt die Vergesellschaftung der Produktion zugrunde, aber der gewaltige Fortschritt der Menschheit, die sich bis zu dieser Vergesellschaftung emporgearbeitet hat, kommt den – Spekulanten zugute. Wir werden weiter unten sehen, wie „auf dieser Grundlage“ die kleinbürgerlich-reaktionäre Kritik des kapitalistischen Imperialismus von einer Rückkehr zur „freien‘ „friedlichen“, „ehrlichen“ Konkurrenz träumt.

„Eine dauernde Erhöhung der Preise als Kartellwirkung“, sagt Kestner, „ist bisher nur bei den wichtigen Produktionsmitteln, insbesondere bei Kohle, Eisen, Kali, dagegen auf die Dauer niemals bei Fertigwaren zu verzeichnen gewesen. Die damit zusammenhängende Erhöhung der Rentabilität ist gleichfalls auf die Produktionsmittelindustrie beschränkt geblieben. Diese Beobachtung muss man dahin erweitern, dass die Rohstoffindustrie nicht nur hinsichtlich Einkommensbildung und Rentabilität durch die bisherige Kartellbildung zuungunsten der weiterverarbeitenden Industrie Vorteile erzielt, sondern dass sie über diese ein bei freier Konkurrenz nicht gekanntes Herrschaftsverhältnis gewonnen hat.“(16)

Das von uns hervorgehobene Wort deckt das Wesen der Sache auf, das von den bürgerlichen Ökonomen so ungern und selten zugegeben wird und um das die heutigen Verteidiger des Opportunismus mit K. Kautsky an der Spitze so eifrig herumzureden versuchen. Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die „jüngste Entwicklung des Kapitalismus“, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen musste und hervorgegangen ist.

Noch ein Beispiel für das Wirtschaften der Kartelle. Dort, wo man auf alle oder die wichtigsten Rohstoffquellen die Hand legen kann, geht die Entstehung von Kartellen und die Bildung von Monopolen besonders leicht vonstatten. Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass Monopole nicht auch in anderen Industriezweigen entstehen, in denen es unmöglich ist, sich der Rohstoffquellen zu bemächtigen. Die Zementindustrie findet ihr Rohmaterial überall. Aber auch diese Industrie ist in Deutschland stark kartelliert. Die Werke sind in Gebietssyndikaten: im süddeutschen, rheinisch-westfälischen usw. zusammengeschlossen; es sind Monopolpreise festgesetzt: 230 bis 280 Mark pro Waggon bei einem Selbstkostenpreis von 180 Mark! Die Betriebe werfen 12-16% Dividende ab, wobei nicht vergessen werden darf, dass die „Genies“ der modernen Spekulation es verstehen, grosse Summen ausser den als Dividende verteilten Gewinnen in ihren Taschen verschwinden zu lassen. Um die Konkurrenz aus einer derart einträglichen Industrie auszuschalten, wenden die Monopolinhaber sogar allerlei Tricks an: Es werden falsche Gerüchte über die schlechte Lage der Industrie verbreitet; in den Zeitungen erscheinen anonyme Anzeigen: „Kapitalisten! Hütet euch, Kapital in Zementfabriken anzulegen.“ Schliesslich werden die Werke von „Aussenseitern“ (d.h. von nicht an den Syndikaten Beteiligten) aufgekauft und ihnen „Abstandssummen“ von 60.000, 80.000 und 150.000 Mark gezahlt. (17) Das Monopol bricht sich überall und mit jeglichen Mitteln Bahn, angefangen von „bescheidenen“ Abstandszahlungen bis zur amerikanischen „Anwendung“ von Dynamit gegen den Konkurrenten.

Die Ausschaltung der Krisen durch die Kartelle ist ein Märchen bürgerlicher Ökonomen. die den Kapitalismus um jeden Preis beschönigen wollen. Im Gegenteil, das Monopol, das in einigen Industriezweigen entsteht, verstärkt und verschärft den chaotischen Charakter, der der ganzen kapitalistischen Produktion in ihrer Gesamtheit eigen ist. Das Missverhältnis zwischen der Entwicklung der Landwirtschaft und der Industrie, das für den Kapitalismus überhaupt charakteristisch ist, wird noch grösser. Die privilegierte Stellung, die die am stärksten kartellierte sogenannte Schwerindustrie, besonders die Kohlen- und Eisenindustrie, einnimmt, ruft in den übrigen Industriezweigen eine „gesteigerte Planlosigkeit“ hervor, wie das Jeidels, der Verfasser einer der besten Arbeiten über „das Verhältnis der deutschen Grossbanken zur Industrie“, zugibt. (18)

„Je entwickelter eine Volkswirtschaft ist“, schreibt Liefmann, ein vorbehaltloser Verteidiger des Kapitalismus, „umso mehr wendet sie sich riskanteren oder ausländischen Unternehmungen zu, solchen, die einer sehr langen Zeit zu ihrer Entwicklung bedürfen, oder endlich solchen, die von nur lokaler Bedeutung sind.“(19) Das gesteigerte Risiko hängt in letzter Instanz mit der ungeheuren Zunahme des Kapitals zusammen, das sozusagen überschäumt, ins Ausland strömt usw. Und zugleich bringt das beschleunigte Tempo der technischen Entwicklung immer mehr Elemente des Missverhältnisses zwischen den verschiedenen Teilen der Volkswirtschaft, immer mehr Chaos und Krisen mit sich. Dieser selbe Liefmann ist gezwungen einzugestehen: „Wahrscheinlich stehen der Menschheit in nicht zu ferner Zeit wieder einmal grosse Umwälzungen auf technischem Gebiet bevor, die ihre Wirkungen auch auf die volkswirtschaftliche Organisation äussern werden“ … Elektrizität, Luftschifffahrt … „In solchen Zeiten grundlegender wirtschaftlicher Veränderungen pflegt sich auch in der Regel eine starke Spekulation zu entwickeln.“(20)

Die Krisen – jeder Art, am häufigsten ökonomische Krisen, aber nicht nur diese allein – verstärken aber ihrerseits in ungeheurem Masse die Tendenz zur Konzentration und zum Monopol. Hier die höchst lehrreiche Betrachtung von Jeidels über die Bedeutung der Krise von 1900, der Krise, die bekanntlich die Rolle eines Wendepunkts in der Geschichte der modernen Monopole gespielt hat:

„Die Krise von 1900 fand neben den Riesenbetrieben der grundlegenden Industrien viele Betriebe von nach heutigen Begriffen veralteter Organisation, die ‚reinen'“ (d.h. nicht kombinierten) „Werke, die von der Welle der Hochkonjunktur mit auf die Höhe gehoben waren. Der Preisfall, der Rückgang des Bedarfs brachten diese ‚reinen‘ Werke in eine Not, von der bei den kombinierten Riesenbetrieben zum Teil überhaupt nicht, zum Teil nur ganz kurze Zeit die Rede war. Dadurch führte die jüngste Krisis in ganz anderem Masse zur industriellen Konzentration als die früheren, als die von 1873, die zwar eine Auslese schuf, aber bei dem Stand der Technik keine derartige, dass ein Monopol der siegreich hervorgegangenen Unternehmungen geschaffen wurde. Ein solches dauerndes Monopol haben aber in hohem Grad die Riesenwerke der heutigen Grosseisen- und Elektrizitätsindustrie, in geringerem die der Maschinenbranche und gewisser Metall-, Verkehrs- und anderer Gewerbe durch ihre komplizierte Technik, ihre grossangelegte Organisation und ihre Kapitalstärke.“(21)

Das Monopol ist das letzte Wort der „jüngsten Entwicklung des Kapitalismus“. Doch würde unsere Vorstellung von der tatsächlichen Macht und Bedeutung der modernen Monopole höchst ungenügend, lückenhaft und eingeengt sein, wenn wir die Rolle der Banken ausser Acht liessen.

 

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(1) Zahlenangaben nach den „Annalen des Deutschen Reichs“, 1911, Zahn.

(2) “ Statistical Abstract of the United States“, 1912, S. 202.

(3) „Das Finanzkapital“, russ. Übersetzung, S. 286/287. (Deutsche Ausgabe Berlin 1955, S. 234.)

(4) Hans Gideon Heymann, „Die gemischten Werke im deutschen Grosseisengewerbe“, Stuttgart 1904 (S. 256, 278).

(5) Hermann Levy, „Monopole, Kartelle und Trusts“, Jena 1909, S. 286, 290, 298.

(6) Th. Vogelstein. „Die finanzielle Organisation der kapitalistischen Industrie und die Monopolbildungen“ in „Grundriss der Sozialökonomik“, VI. Abt., Tüb. 1914, vergleiche von demselben Autor „Organisationsformen der Eisenindustrie und Textilindustrie in England und Amerika“, Bd. I, Lpz. 1910.

(7) Dr. Riesser, „Die deutschen Grossbanken und ihre Konzentration im Zusammenhange mit der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Deutschland“, 4. Aufl., 1912, S. 149. – R. Liefmann, „Kartelle und Trusts und die Weiterbildung der volkswirtschaftlichen Organisation“, 2. Aufl., 1910. S. 25.

(8) Dr. Fritz Kestner, „Der Organisationszwang. Eine Untersuchung über die Kämpfe zwischen Kartellen und Aussenseitern“, Brl. 1912, S. 11.

(9) R Liefmann, „Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften. Eine Studie über den modernen Kapitalismus und das Effektenwesen“, 1. Aufl., Jena 1909, S. 212.

(10) Ebenda, S. 218.

(11) Dr. S. Tschierschky, „Kartell und Trust“, Gött. 1903, S. 13.

(12) Th. Vogelstein, „Organisationsformen usw.“, S. 275.

(13) „Report of the Commissioner of Corporations on the Tobacco Industry“, Washington 1909, S. 266, zitiert nach Dr. Paul Tafel, „Die Nordamerikanischen Trusts und ihre Wirkungen auf den Fortschritt der Technik“, Stuttgart 1913, S. 48.

(14) Ebenda, S. 49.

(15) Riesser, a.a.O., 3. Aufl., S. 547 ff. Die Zeitungen berichten (Juni 1916) von einem neuen Riesentrust, der die chemische Industrie Deutschlands zusammenfassen soll.

(16) Kestner, a.a.O., S. 254.

(17) „Zement“ von L. Eschwege: „Die Bank“, 1909, 1, S.115 ff.

(18) Jeidels, „Das Verhältnis der deutschen Grossbanken zur Industrie mit besonderer Berücksichtigung der Eisenindustrie“, Lpz. 1905, S. 271.

(19) Liefmann, „Beteiligungs- etc. Ges.“, S. 434.

(20) Ebenda. S. 465/466.

(21) Jeidels, a.a.O. S. 108.

 

 

II. Die Banken und ihre neue Rolle

Die grundlegende und ursprüngliche Operation der Banken ist die Zahlungsvermittlung. Im Zusammenhang damit verwandeln die Banken brachliegendes Geldkapital in funktionierendes, d.h. profitbringendes Kapital, sie sammeln alle und jegliche Geldeinkünfte und stellen sie der Kapitalistenklasse zur Verfügung.

In dem Masse, wie sich das Bankwesen und seine Konzentration in wenigen Institutionen entwickeln, wachsen die Banken aus bescheidenen Vermittlern zu allmächtigen Monopolinhabern an, die fast über das gesamte Geldkapital aller Kapitalisten und Kleinunternehmer sowie über den grössten Teil der Produktionsmittel und Rohstoffquellen des betreffenden Landes oder einer ganzen Reihe von Ländern verfügen. Diese Verwandlung zahlreicher bescheidener Vermittler in ein Häuflein Monopolisten bildet einen der Grundprozesse des Hinüberwachsens des Kapitalismus in den kapitalistischen Imperialismus, und deshalb müssen wir in erster Linie bei der Konzentration des Bankwesens verweilen.

Im Jahre 1907/08 betrugen die Einlagen aller Aktienbanken Deutschlands, die über ein Kapital von mehr als je 1 Million Mark verfügten, 7 Milliarden Mark; 1912/13 bereits 9,8 Milliarden. Das ergibt eine Zunahme um 40% in fünf Jahren, wobei von diesen 2,8 Milliarden Zunahme 2,75 Milliarden auf 57 Banken entfallen, deren jede über ein Kapital von mehr als 10 Millionen Mark verfügte. Die Einlagen verteilten sich auf die Gross- und Kleinbanken wie folgt (22):

Prozent aller Einlagen
9 Berliner Grossbanken 48 sonstige Banken mit mehr als 10 Mill. Mark Kapital 115 Banken mit 1-10 Mill. Mark. Kleinbanken (weniger als 1 Mill. Mark)
1907/08 47 32,5 16,5 4
1912/13 49 36 12 3

 

Die Kleinbanken sind von den Grossbanken verdrängt, von denen allein neun fast die Hälfte aller Einlagen bei sich konzentrieren. Dabei ist aber noch sehr vieles ausser Acht gelassen, z B. die Verwandlung einer ganzen Reihe von Kleinbanken in faktische Zweigstellen der Grossbanken usw., wovon weiter unten die Rede sein wird.

Die Einlagen bei den 9 Berliner Grossbanken schätzte Schulze-Gaevernitz Ende 1913 auf 5,4 Milliarden Mark von insgesamt rund 10 Milliarden Mark. Im Hinblick nicht allein auf die Einlagen, sondern auf das gesamte Bankkapital schrieb derselbe Autor: „Die 9 Berliner Grossbanken mit den ihnen angegliederten Instituten verwalteten Ende 1909: 11.276 Millionen Mark, damit rund 83% des gesamten deutschen Bankkapitals. Die ‚Deutsche Bank‘, welche mit ihren Konzernbanken an 3 Milliarden Mark verwaltet, ist neben dem preussischen Eisenbahnfiskus die grösste – dabei höchst dezentralisierte – Kapitalzusammenfassung der alten Welt.“(23)

Wir haben den Hinweis auf die „angegliederten“ Banken hervorgehoben, denn das gehört zu einem der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der modernen kapitalistischen Konzentration. Die grossen Unternehmungen, besonders die Banken, verschlingen nicht nur unmittelbar die kleinen, sondern „gliedern“ sie sich an, unterwerfen sie, schliessen sie in „ihre“ Gruppe, ihren „Konzern“ – wie der technische Ausdruck lautet – ein durch „Beteiligung“ an ihrem Kapital, durch Aufkauf oder Austausch von Aktien, durch ein System von Schuldverhältnissen usw. usf. Professor Liefmann hat ein ganzes grosses „Werk“ von beinahe einem halben Tausend Seiten der Beschreibung der modernen „Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften“ (24) gewidmet, wobei er leider dem vielfach unverdauten Rohmaterial seines Buches recht minderwertige „theoretische“ Betrachtungen beifügt. Zu welchem Ergebnis im Sinne der Konzentration dieses System der „Beteiligungen“ führt, zeigt am besten das Werk des „Bankmannes“ Riesser über die deutschen Grossbanken. Bevor wir jedoch zu seinen Angaben übergehen, wollen wir ein konkretes Beispiel des „Beteiligungs“systems anführen.

Die „Gruppe“ der „Deutschen Bank“ ist eine der grössten, wenn nicht die grösste, von allen Gruppen der Grossbanken. Um die wichtigsten Fäden, die alle Banken dieser Gruppe miteinander verbinden, in Betracht zu ziehen, muss man „Beteiligungen“ ersten, zweiten und dritten Grades unterscheiden oder, was dasselbe ist, eine Abhängigkeit (der kleineren Banken von der „Deutschen Bank“) ersten, zweiten und dritten Grades.

Es ergibt sich folgendes Bild (25):

Abhängigkeit ersten Grades Abhängigkeit zweiten Grades Abhängigkeit dritten Grades
Die „Deutsche Bank“ ist beteiligt dauernd an 17 Banken davon 9 an 34 davon 4 an 7
auf unbekannte Dauer an 5 Banken
mit wechselnder Intensität an 8 Banken davon 5 an 14 davon 2 an 2
Zusammen an 30 Banken davon 14 an 48 davon 6 an 9

 

Zu den 8 Banken des „ersten Abhängigkeitsgrades“, die sich die „Deutsche Bank“ „mit wechselndem Interesse“ untergeordnet hat, gehören drei ausländische Banken: eine österreichische (der „Wiener Bankverein“) und zwei russische (die Sibirische Handelsbank und die Russische Bank für auswärtigen Handel). Im Ganzen gehören zur Gruppe der „Deutschen Bank“ direkt und indirekt, ganz und teilweise 87 Banken, und der Gesamtbetrag des eigenen und fremden Kapitals, über das die Gruppe verfügt, beläuft sich auf 2-3 Milliarden Mark.

Es ist klar, dass eine Bank, die an der Spitze einer solchen Gruppe steht und mit einem halben Dutzend anderer ihr wenig nachstehender Banken zum Zwecke besonders grosser und vorteilhafter Finanzoperationen, wie z B. Staatsanleihen, eine Verbindung eingeht, bereits über die blosse „Vermittler“rolle hinausgewachsen ist und sich in eine Vereinigung eines Häufleins von Monopolisten verwandelt hat.

Mit welcher Schnelligkeit sich gerade Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Konzentration des Bankwesens in Deutschland vollzog, ist aus den folgenden, hier gekürzt wiedergegebenen Angaben Riessers zu ersehen:

6 Berliner Grossbanken hatten

Jahr Niederlassungen in Deutschland Depositenkassen und Wechselstuben Ständige Beteiligungen an deutschen Aktienbanken Summe der Anstalten
1895 16 14 1 42
1900 21 40 8 80
1911 104 276 63 450

 

Wir sehen, wie schnell ein dichtes Netz von Kanälen entsteht, die das ganze Land überziehen, sämtliche Kapitalien und Geldeinkünfte zentralisieren und Tausende und aber Tausende von zersplitterten Wirtschaften in eine einzige gesamtnationale kapitalistische Wirtschaft und schliesslich in die kapitalistische Weltwirtschaft verwandeln. Jene „Dezentralisation“, von der Schulze-Gaevernitz als Vertreter der bürgerlichen politischen Ökonomie unserer Tage in dem oben angeführten Zitat spricht, besteht in Wirklichkeit darin, dass zunehmend immer mehr früher verhältnismässig „selbständige“ oder, richtiger gesagt, lokal begrenzte Wirtschaftseinheiten einem einzigen Zentrum unterworfen werden. In Wirklichkeit ist das also eine Zentralisation, eine Steigerung der Rolle, der Bedeutung, der Macht der Monopolriesen.

In den älteren kapitalistischen Ländern ist dieses „Banknetz“ noch dichter. In England einschliesslich Irland belief sich 1910 die Zahl der Niederlassungen aller Banken auf 7.151. Vier Grossbanken hatten je über 400 Filialen (von 447 bis 669), weitere 4 je über 200 und 11 je über 100.

In Frankreich entwickelten drei Grossbanken, „Crédit Lyonnais“, „Comptoir National“ und „Société Générale“, ihre Operationen und ihr Filialnetz wie folgt (26):

Anzahl der Niederlassungen und Kassen Höhe des Kapitals
in der Provinz in Paris insgesamt eigenes fremdes
(in Millionen Francs)
1870 47 17 64 200 427
1890 192 66 258 265 1.245
1909 1.033 196 1.229 887 4.363

 

Zur Charakteristik der „Verbindungen“, die eine moderne Grossbank hat, führt Riesser Zahlen über die einlaufenden und abgesandten Briefe bei der „Disconto-Gesellschaft“ an, einer der grössten Banken Deutschlands und der ganzen Welt (1914 erreichte ihr Kapital 300 Millionen Mark):

Zahl der Briefe
Eingang Ausgang
1852 6.135 6.292
1870 85.800 87.513
1900 533.102 626.043

 

Bei der Pariser Grossbank „Crédit Lyonnais“ stieg die Zahl der Konten von 28.535 im Jahre 1875 auf 633.539 im Jahre 1912. (27)

Diese einfachen Zahlen zeigen wohl anschaulicher als langatmige Betrachtungen, wie sich mit der Konzentration des Kapitals und dem Wachstum des Umsatzes die Bedeutung der Banken von Grund aus ändert. Aus den zersplitterten Kapitalisten entsteht ein einziger kollektiver Kapitalist. Die Bank, die das Kontokorrent für bestimmte Kapitalisten führt, übt scheinbar eine rein technische, eine blosse Hilfsoperation aus. Sobald aber diese Operation Riesendimensionen annimmt, zeigt sich, dass eine Handvoll Monopolisten sich die Handels und Industrieoperationen der ganzen kapitalistischen Gesellschaft unterwirft, indem sie – durch die Bankverbindungen, Kontokorrente und andere Finanzoperationen – die Möglichkeit erhält, sich zunächst über die Geschäftslage der einzelnen Kapitalisten genau zu informieren, dann sie zu kontrollieren, sie durch Erweiterung oder Schmälerung, Erleichterung oder Erschwerung des Kredits zu beeinflussen und schliesslich ihr Schicksal restlos zu bestimmen, die Höhe ihrer Einkünfte zu bestimmen, ihnen Kapital zu entziehen oder ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Kapital rasch und in grossem Umfang zu erhöhen usw.

Wir erwähnten soeben das Dreihundertmillionenkapital der Berliner „Disconto-Gesellschaft“. Diese Kapitalerhöhung der „Disconto-Gesellschaft“ war eine der Episoden im Kampf um die Hegemonie zwischen den beiden grössten Berliner Banken, der „Deutschen Bank“ und der „Disconto-Gesellschaft“. Im Jahre 1870 war erstere noch ein Neuling und besass im Ganzen ein Kapital von 15 Mill. Mark, letztere dagegen von 30 Mill. Im Jahre 1908 hatte erstere ein Kapital von 200 Mill., letztere von 170 Mill. Im Jahre 1914 erhöhte die „Deutsche Bank“ ihr Kapital auf 250 Mill. Mark, während die „Disconto-Gesellschaft“ das ihrige durch Fusion mit einer anderen erstklassigen Grossbank, dem „Schaaffhausenschen Bankverein“, auf 300 Mill. brachte. Selbstverständlich geht dieser Kampf um die Hegemonie Hand in Hand mit immer häufigeren und festeren „Vereinbarungen“ zwischen den beiden Banken. Hier die Schlussfolgerungen, die sich durch diesen Entwicklungsgang Bankfachleuten aufdrängen, welche Wirtschaftsfragen unter einem Gesichtspunkt betrachten, der keineswegs über den Rahmen eines höchst gemässigten und akkuraten bürgerlichen Reformertums hinausgeht:

„Weitere Banken werden auf dem beschrittenen Wege nachfolgen“, schrieb die deutsche Zeitschrift „Die Bank“ anlässlich der Kapitalerhöhung der „Disconto-Gesellschaft“ auf 300 Mill. Mark, „… und aus den 300 Personen, die heute Deutschland wirtschaftlich regieren, werden mit der Zeit 50, 25 oder noch weniger werden. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die neueste Konzentrationsbewegung sich auf das Bankwesen beschränken wird. Die engeren Beziehungen zwischen einzelnen Banken führen naturgemäss auch eine Annäherung zwischen den von ihnen patronisierten Industriekonzernen herbei … und eines Tages werden wir aufwachen und uns die Augen reiben: Neben uns lauter Trusts, vor uns die Notwendigkeit, die Privatmonopole durch Staatsmonopole abzulösen. Und doch haben wir uns im Grunde nichts anderes vorzuwerfen, als dass wir der Entwicklung der Dinge ihren freien, durch die Aktie ein wenig beschleunigten Gang gelassen haben.“ (28)

Das ist ein Musterbeispiel für die Hilflosigkeit der bürgerlichen Publizistik, von der sich die bürgerliche Wissenschaft nur durch einen geringeren Grad von Aufrichtigkeit und durch das Bestreben unterscheidet, das Wesen der Dinge zu vertuschen, den Wald durch Bäume zu verdecken. Man „reibt sich die Augen“, bestürzt über die Folgen der Konzentration, man macht der Regierung des kapitalistischen Deutschlands oder der kapitalistischen „Gesellschaft“ („uns“) „Vorwürfe“, man fürchtet die Beschleunigung“ der Konzentration durch die Einführung von Aktien, wie der deutsche „Kartell“-spezialist Tschierschky, der die amerikanischen Trusts fürchtet und die deutschen Kartelle „vorzieht“, weil sie angeblich „den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt … nicht so überstürzen wie die Trusts“ (29) – ist das nicht Hilflosigkeit?

Aber Tatsachen bleiben Tatsachen. Deutschland kennt zwar keine Trusts, sondern „nur“ Kartelle, wird aber dennoch von höchstens 300 Kapitalmagnaten regiert, und ihre Zahl wird stetig geringer. In jedem Fall, in allen kapitalistischen Ländern, bei aller Verschiedenartigkeit der Bankgesetzgebung wird der Prozess der Kapitalkonzentration und der Monopolbildung durch die Banken gewaltig verstärkt und beschleunigt.

Mit den Banken ist „die Form einer allgemeinen Buchführung und Verteilung der Produktionsmittel auf gesellschaftlicher Stufenleiter gegeben, aber auch nur die Form“, schrieb Marx vor einem halben Jahrhundert im „Kapital“ (russ. Übersetzung Bd. III. Teil II, S. 144 |Karl Marx, „Das Kapital“, Bd. III, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S. 620|). Die von uns angeführten Daten über das Wachstum des Bankkapitals, über die Zunahme der Zahl der Filialen und Zweigstellen der Grossbanken, der Zahl ihrer Konten usw. zeigen uns konkret diese „allgemeine Buchführung“ der ganzen Klasse der Kapitalisten und sogar nicht nur der Kapitalisten allein, denn die Banken sammeln, sei es auch nur vorübergehend, alle möglichen Geldeinkünfte, sowohl der kleinen Unternehmer als auch der Angestellten und einer winzigen Oberschicht der Arbeiter. Eine „allgemeine Verteilung der Produktionsmittel“ – das ist es, was formal gesehen aus den modernen Banken erwächst, von denen drei bis sechs Grossbanken in Frankreich und sechs bis acht in Deutschland über Milliarden und aber Milliarden verfügen. Ihrem Inhalt nach aber ist diese Verteilung der Produktionsmittel keineswegs „allgemein“, sondern privat, d.h., sie ist den Interessen des grossen in erster Linie des allergrössten, monopolistischen Kapitals angepasst, das unter Verhältnissen operiert, wo die Masse der Bevölkerung ein Hungerdasein fristet, die ganze Entwicklung der Landwirtschaft hinter der Entwicklung der Industrie hoffnungslos zurückbleibt und die „Schwerindustrie“ sich alle übrigen Zweige der Industrie tributpflichtig macht.

Bei der Vergesellschaftung der kapitalistischen Wirtschaft beginnen mit den Banken die Sparkassen und Postanstalten zu konkurrieren, die „dezentralisierter“ als die Banken sind, d.h. mit ihrem Einfluss in mehr Gebiete, in entlegenere Orte und breitere Bevölkerungsschichten eindringen. Nachfolgend Vergleichsdaten, die eine amerikanische Kommission über die Entwicklung der Einlagen in den Banken und den Sparkassen gesammelt hat. (30)

Einlagen in Milliarden Mark
England Frankreich Deutschland
in Banken in Spar-
kassen
in Banken in Spar-
kassen
in Banken in Kredit-
genossen-
schaften
in Spar-
kassen
1880 8,4 1,6 ? 0,9 0,5 0,4 2,6
1888 12,4 2,0 1,5 2,1 1,1 0,4 4,5
1908 23,2 4,2 3,7 4,2 7,1 2,2 13,9

 

Die Sparkassen, die für Einlagen 4 und 41/4% zahlen, müssen eine „rentable“ Anlagemöglichkeit für ihre Kapitalien suchen, sich in Wechsel-, Hypotheken- und andere Operationen einlassen. Die Grenzen zwischen Banken und Sparkassen „verwischen sich immer mehr“. Die Handelskammern von Bochum und Erfurt z.B. verlangen, dass den Sparkassen „reine“ Bankoperationen wie die Diskontierung von Wechseln „verboten“ werden und dass die “ „Bank“tätigkeit der Postämter eingeschränkt wird. (31) Es sieht so aus, als ob die Bankmagnaten Angst hätten, das Staatsmonopol könnte sich von unerwarteter Seite her an sie heranschleichen. Aber diese Angst geht selbstverständlich nicht über den Rahmen einer Konkurrenz, sagen wir, zwischen zwei Abteilungschefs in ein und derselben Kanzlei hinaus. Denn einerseits verfügen über die Milliardeneinlagen der Sparkassen in Wirklichkeit zu guter Letzt ein und dieselben Magnaten des Bankkapitals; und anderseits ist ein Staatsmonopol in der kapitalistischen Gesellschaft lediglich ein Mittel zur Erhöhung und Sicherung der Einkünfte für Millionäre aus diesem oder jenem Industriezweig, die dem Bankrott nahe sind.

Die Ablösung des alten Kapitalismus mit der Herrschaft der freien Konkurrenz durch den neuen Kapitalismus mit der Herrschaft des Monopols findet unter anderem ihren Ausdruck in der sinkenden Bedeutung der Börse.“ Die Börse“, lesen wir in der Zeitschrift „Die Bank“, „hat längst aufgehört, der unentbehrliche Umsatzvermittler zu sein, der sie früher war, als die Banken noch nicht die meisten Emissionen in ihrer Kundschaft unterbringen konnten.“(32)

«’Jede Bank ist eine Börse‘ – ist ein Ausspruch, der einen umso grösseren Grad von Wahrheit enthält, je grösser die Bank ist und je mehr die Konzentration im Bankgewerbe Fortschritte macht.»(33) «Hatte einst in den siebziger Jahren eine jugendlich ausschweifende Börse» (eine ‘zarte’ Anspielung auf den Börsenkrach von 1873, auf die Gründerskandale usw.) «die Industrialisierung Deutschlands eingeleitet, … so können heute Banken und Industrie ‚allein reiten‘. Die Börsenherrschaft unserer Grossbanken … ist nichts als ein Ausdruck des voll organisierten deutschen Industriestaates. Wird damit das Gebiet der automatisch wirkenden Wirtschaftsgesetze beschnitten und das Gebiet bewusster Regelung durch die Banken ausserordentlich erweitert, so wächst damit die volkswirtschaftliche Verantwortung weniger leitender Köpfe ins Ungemessene.»(34) So schreibt der deutsche Professor Schulze-Gaevernitz, ein Apologet des deutschen Imperialismus, eine Autorität für die Imperialisten aller Länder, ein Mann, der nur „eine Kleinigkeit“ zu vertuschen sucht, nämlich, dass diese „bewusste Regelung“ durch die Banken im Schröpfen des Publikums durch ein Häuflein „voll organisierter“ Monopolisten besteht. Die Aufgabe eines bürgerlichen Professors besteht eben nicht darin, diese ganze Mechanik aufzudecken und die Machenschaften der Bankmonopolisten zu enthüllen, sondern darin, sie zu beschönigen.

Genauso macht es Riesser, ein Ökonom und „Bankmann“ mit noch grösserer Autorität, der Tatsachen, die sich nicht leugnen lassen, mit ein paar nichtssagenden Phrasen abtut: „Daraus ergibt sich dann auch, dass die Börse die für die Gesamtwirtschaft und den Wertpapierverkehr unerlässliche Eigenschaft immer mehr verliert, nicht nur das feinste Messinstrument, sondern auch ein ‚beinahe automatisch wirkender Regulator der an ihr zusammenströmenden wirtschaftlichen Bewegungen‘ zu sein.“(35)

Mit anderen Worten: Der alte Kapitalismus, der Kapitalismus der freien Konkurrenz mit der Börse als unerlässlichem Regulator, schwindet dahin. Er wird von einem neuen Kapitalismus abgelöst, dem deutliche Züge einer Übergangserscheinung, einer Mischform von freier Konkurrenz und Monopol anhaften. Natürlich drängt sich die Frage auf, in was dieser neueste Kapitalismus „übergeht“, aber die bürgerlichen Gelehrten schrecken vor dieser Fragestellung zurück.

„Vor 30 Jahren verrichteten frei konkurrierende Unternehmer 9/10 derjenigen wirtschaftlichen Arbeit, welche nicht als Handfertigkeit dem ‚Arbeiter‘ zufiel. Heute leisten Beamte 9/10 jener wirtschaftlichen Kopfarbeit. Das Bankwesen steht an der Spitze dieser Entwicklung.“(36) Dieses Eingeständnis von Schulze-Gaevernitz lauft sogleich wieder auf die Frage hinaus, in was der moderne Kapitalismus, der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium, übergeht. – – –

Unter den wenigen Banken die infolge des Konzentrationsprozesses an der Spitze der gesamten kapitalistischen Wirtschaft übrigbleiben, macht sich natürlich immer stärker das Bestreben geltend, monopolistische Abmachungen miteinander zu treffen, einen Banktrust zu bilden. In Amerika beherrschen nicht neun, sondern zwei Grossbanken, die der Milliardäre Rockefeller und Morgan, ein Kapital von 11 Milliarden Mark. (37) In Deutschland veranlasste die oben von uns erwähnte Aufsaugung des „Schaaffhausenschen Bankvereins“ durch die „Disconto-Gesellschaft“ die „Frankfurter Zeitung“, das Blatt der Börseninteressen, zu folgendem Kommentar:

„Mit der fortschreitenden Konzentrationsbewegung engt sich der Kreis, an den man mit den grossen Kreditansprüchen herantreten kann, ständig ein, so dass die Abhängigkeit der Grossindustrie von einigen wenigen Bankkonzernen zunimmt. Bei den inneren Zusammenhängen zwischen Industrie und Finanz wird die Bewegungsfreiheit der auf Bankkapital angewiesenen Industriegesellschaften eingeschränkt. Deshalb begleitet die Grossindustrie die zunehmende Vertrustung der Banken mit gemischten Gefühlen; zeigen sich doch schon mehrfach Ansätze zu gewissen Abmachungen zwischen den einzelnen Grossbankkonzernen, die auf eine Beschränkung des Wettbewerbs hinauslaufen.“(38)

Das letzte Wort in der Entwicklung des Bankwesens ist immer wieder das Monopol.

Was den engen Zusammenhang zwischen Banken und Industrie betrifft, so tritt gerade hier die neue Rolle der Banken vielleicht am anschaulichsten zutage. Wenn die Bank die Wechsel irgendeines Unternehmers diskontiert, ihm ein Kontokorrent eröffnet usw., so vermindern diese Operationen, einzeln betrachtet, die Selbständigkeit dieses Unternehmers um keinen Deut, und die Bank bleibt in der bescheidenen Rolle eines Vermittlers. Sobald aber diese Operationen sich häufen und zu einer ständigen Einrichtung werden, sobald die Bank Kapitalien von ungeheuren Dimensionen in ihrer Hand „ansammelt“, sobald die Führung des Kontokorrents eines Unternehmens die Bank in die Lage versetzt – und das ist ja der Fall -, die wirtschaftliche Lage ihres Kunden immer genauer und vollständiger kennenzulernen, ergibt sich eine immer vollständigere Abhängigkeit des Industriekapitalisten von der Bank.

Zugleich entwickelt sich sozusagen eine Personalunion der Banken mit den grössten Industrie- und Handelsunternehmungen, eine beiderseitige Verschmelzung durch Aktienbesitz, durch Eintritt der Bankdirektoren in die Aufsichtsräte (oder die Vorstände) der Handels- und Industrieunternehmungen und umgekehrt. Der deutsche Ökonom Jeidels hat über diese Art der Konzentration von Kapitalien und Unternehmungen genaue Daten gesammelt. Die sechs grössten Berliner Banken waren durch ihre Direktoren in 344 Industriegesellschaften und durch ihre Vorstandsmitglieder in weiteren 407, insgesamt also in 751 Gesellschaften vertreten. In 289 Gesellschaften hatten sie entweder je zwei Mitglieder im Aufsichtsrat oder den Posten des Vorsitzenden. Unter diesen Handels- und Industriegesellschaften finden wir die mannigfachsten Industriezweige, Versicherungswesen wie Verkehrswesen, Restaurationsbetriebe, Theater, Kunstgewerbe usw. Anderseits sassen (1910) in den Aufsichtsräten dieser sechs Banken 51 Grossindustrielle, darunter ein Direktor von Krupp, einer der grossen Schiffahrtsgesellschaft „Hapag“ (Hamburg-Amerika-Linie) usw. usf. Jede dieser sechs Banken hat von 1895 bis 1910 an der Emission von Aktien und Obligationen mehrerer hundert Industriegesellschaften und zwar zwischen 281 und 419 teilgenommen. (39)

Die „Personalunion“ der Banken mit der Industrie findet ihre Ergänzung in der „Personalunion“ der einen wie der anderen Gesellschaften mit der Regierung. Jeidels schreibt: „Freiwillig werden Aufsichtsratsstellen gewährt an Personen mit gutklingenden Namen, auch ehemaligen Staatsbeamten, die im Verkehr mit den Behörden manche Erleichterung (!!) schaffen können“ … „Im Aufsichtsrat einer Grossbank sieht man gewöhnlich … ein Parlamentsmitglied oder ein Mitglied der Berliner Stadtverwaltung“.

Die Herausbildung und Weiterbildung der grosskapitalistischen Monopole geht also auf „natürlichem“ und „übernatürlichem“ Wege mit Volldampf voraus. Es kommt systematisch eine gewisse Arbeitsteilung unter den paar hundert Finanzkönigen der modernen kapitalistischen Gesellschaft zustande.

„Dieser Erweiterung des Tätigkeitsgebiets einzelner Grossindustrieller“ (die Vorstandsmitglieder der Banken werden usw.) „und der Beschränkung von Provinzdirektoren auf einen bestimmten Industriebezirk geht eine gewisse zunehmende Spezialisierung der Leiter der Grossbanken auf besondere Geschäftszweige zur Seite. Sie ist erst denkbar bei grossem Umfang des gesamten Bankgeschäfts und der Industriebeziehungen im Besonderen. Diese Arbeitsteilung vollzieht sich in der doppelten Richtung, dass der Verkehr mit der Industrie als Ganzes einem der Direktoren als Spezialgebiet überwiesen wird und dass daneben jeder Direktor einzelne isolierte oder mehrere nach Gewerbe und Interessen verwandte Unternehmungen zur Überwachung als Aufsichtsratsmitglied übernimmt“ (der Kapitalismus ist bereits zu einer organisierten Kontrolle über die einzelnen Unternehmungen herangereift). „Die inländische Industrie, mitunter auch die westdeutsche allein“ (Westdeutschland ist der industriell entwickeltste Teil Deutschlands), „werden die Domäne des einen, die Beziehungen zu Staaten und Industrie des Auslands, die Personalien, das Börsengeschäft usw. die Spezialität der anderen. Daneben hat dann von den einzelnen Bankdirektoren oft jeder noch ein besonderes Gewerbe oder eine besondere Gegend, wo er als Aufsichtsratsmitglied etwas zu sagen hat; der eine ist vorwiegend im Aufsichtsrat von Elektrizitätsgesellschaften, der andere in dem chemischer Fabriken, Brauereien oder Zuckerfabriken, wieder andere findet man nur bei wenigen isolierten Industrieunternehmungen, dafür umso mehr bei nichtindustriellen Gesellschaften, etwa der Versicherungsbranche, im Aufsichtsrat … Sicher ist, dass bei den Grossbanken in gleichem Masse wie Umfang und Vielseitigkeit des Geschäfts wachsen, eine zunehmende Arbeitsteilung unter den Leitern um sich greift mit dem Zweck (und Erfolg), sie gewissermassen aus dem reinen Bankgeschäft etwas herauszuheben und für die allgemeinen Fragen der Industrie und die speziellen der einzelnen Gewerbe urteilsfähiger und sachverständiger und dadurch innerhalb der industriellen Einflusssphäre der Bank aktionsfähiger zu machen. Ergänzt wird dieses System der Banken durch das Streben, in Dingen der Industrie sachverständige Personen in ihren eigenen Aufsichtsrat oder den ihrer Unterbanken zu wählen. Industrielle, ehemalige Beamte, namentlich solche des Eisenbahndienstes und Bergwesens“ usw. (40)

Einrichtungen gleicher Art, nur in etwas anderer Form, finden wir auch im französischen Bankwesen. Eine der drei grössten Banken Frankreichs, der „Crédit Lyonnais“, hat z.B. ein besonderes „Finanzstudienbüro“ (Service des études financières) eingerichtet. Dort arbeiten ständig über 50 Personen – Ingenieure, Statistiker, Nationalökonomen, Juristen usw. Die Kosten dieses Büros belaufen sich auf sechs- bis siebenhunderttausend Francs jährlich. Es zerfällt seinerseits in acht Abteilungen. Die eine sammelt Angaben speziell über Industrieunternehmungen, die andere verfolgt die allgemeine Statistik, die dritte studiert die Eisenbahn- und Dampfschifffahrts-Gesellschaften, die vierte Wertpapiere, die fünfte Finanzberichte usw. (41)

Die Folge ist einerseits eine immer grössere Verschmelzung oder, nach einem treffenden Ausdruck von N. I. Bucharin, ein Verwachsen des Bankkapitals mit dem Industriekapital, und anderseits ein Hinüberwachsen der Banken in Institutionen von wahrhaft „universalem Charakter“. Wir halten es für notwendig, genau die Formulierungen von Jeidels über diese Frage anzuführen, der die Dinge am eingehendsten studiert hat:

„Als Resultat der Betrachtung der Industriebeziehungen in ihrer Gesamtheit ergibt sich der universale Charakter der für die Industrie tätigen Finanzinstitute: Im Gegensatz zu anderen Bankformen und im Gegensatz zu der zuweilen von der Literatur aufgestellten Forderung, die Banken sollten sich auf ein bestimmtes Gebiet oder Gewerbe spezialisieren, um den Boden nicht unter den Füssen zu verlieren – suchen die Grossbanken ihre Verbindungen mit industriellen Unternehmungen nach Ort und Gewerbeart möglichst vielseitig zu gestalten, die Ungleichheiten in der örtlichen und gewerblichen Verteilung, die sich aus der Geschichte der einzelnen Institute erklärt, mehr und mehr zu beseitigen … Die Verbindung mit der Industrie allgemein zu machen ist die eine, sie dauernd und intensiv zu machen die andere Tendenz; beide sind in den sechs Grossbanken in nicht ganz, aber im wesentlichen gleichem Mass bereits stark verwirklicht.“(42)

Aus Handels- und Industriekreisen werden oft Klagen über den „Terrorismus“ der Banken laut. Es ist nicht verwunderlich, dass derartige Klagen laut werden, wenn die Grossbanken so „kommandieren“, wie folgendes Beispiel zeigt. Am 19. November 1904 wandte sich eine der sogenannten Berliner D-Banken (die Namen der vier grössten Banken Berlins fangen mit dem Buchstaben D an) an den Vorstand des Nordwestmitteldeutschen Zementsyndikats mit folgendem Brief: „Nach der im Reichsanzeiger vom 18. cr. veröffentlichten Bekanntmachung Ihrer Gesellschaft müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass in der am 30. des Monats stattfindenden Generalversammlung Beschlüsse gefasst werden, die geeignet sein können, Veränderungen uns nicht genehmer Art in Ihrem Geschäftsbetrieb herbeizuführen. Aus diesem Grunde müssen wir zu unserem lebhaften Bedauern den Ihnen eingeräumten Kredit hiermit zurückziehen … Wenn indes in der angegebenen Generalversammlung nichts beschlossen wird, was uns nicht genehm ist, und wir in dieser Beziehung durch uns konvenierende Garantien auch für die Zukunft geschützt sind, so erklären uns gern bereit, wegen Gewährung eines neuen Kredits mit Ihnen in Verhandlung zu treten.“(43)

Im Grunde genommen sind das die alten Klagen des Kleinkapitals über den Druck des Grosskapitals, nur ist hier ein ganzes Syndikat in die Kategorie der „Kleinen“ geraten! Der alte Kampf zwischen Klein- und Grosskapital wiederholt sich auf einer neuen, unvergleichlich höheren Entwicklungsstufe. Selbstverständlich können die Milliardenunternehmungen der Grossbanken auch den technischen Fortschritt mit Mitteln fördern, mit denen sich die früheren in keiner Weise vergleichen lassen. Die Banken errichten z.B. besondere Gesellschaften für technische Forschungen, deren Ergebnisse natürlich nur „befreundeten“ Industrieunternehmungen zugutekommen. Hierher gehören die „Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen“, die „Zentralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen“ u.a.m.

Die Leiter der Grossbanken selbst können sich nicht der Einsicht verschliessen, dass neue Verhältnisse der Volkswirtschaft im Entstehen begriffen sind, aber sie stehen ihnen hilflos gegenüber:

„Wer den Personenwechsel in Direktion und Aufsichtsrat der Grossbanken in den letzten Jahren beobachtet hat“, schreibt Jeidels, „musste merken, wie allmählich Personen ans Ruder kamen, die ein aktives Eingreifen in die Gesamtentwicklung der Industrie für die notwendige, immer aktueller werdende Aufgabe der Grossbanken halten, wie sich zwischen ihnen und den älteren Direktoren der Banken daraus ein sachlicher und oft persönlicher Gegensatz entwickelt. Es handelt sich bei diesem im Grunde darum, ob nicht mit dem Hinübergreifen der Banken in den industriellen Produktionsprozess ihr Geschäft als Kreditinstitut leidet, die soliden Grundsätze und der sichere Gewinn geopfert werden zugunsten einer Tätigkeit, die mit der Kreditvermittlung nichts zu tun habe und die Bank auf ein Gebiet führe, wo sie dem blinden Walten industrieller Konjunktur noch mehr ausgesetzt sei als bisher. Während viele der älteren Bankleiter dies behaupten, sieht die Mehrzahl der jüngeren in dem aktiven Eingreifen in die Fragen der Industrie dieselbe Notwendigkeit, die mit der modernen grossindustriellen Entwicklung die Grossbanken und das heutige industrielle Bankgeschäft hervorgerufen hat. Nur darin sind sich beide Teile einig, dass feste Grundsätze und ein konkretes Ziel für die neue Tätigkeit der Grossbanken noch nicht existieren. (44)

Der alte Kapitalismus hat sich überlebt. Der neue ist ein Übergang zu etwas anderem. „Feste Grundsätze und ein konkretes Ziel“ für die „Versöhnung“ des Monopols mit der freien Konkurrenz finden zu wollen ist selbstverständlich eine hoffnungslose Sache. Das Eingeständnis der Männer der Praxis klingt ganz anders als die amtliche Verherrlichung der Reize des „organisierten“ Kapitalismus durch seine Apologeten vom Schlage eines Schulze-Gaevernitz, Liefmann und ähnlicher „Theoretiker“.

In welche Zeit fällt nun die endgültige Konsolidierung der „neuen Tätigkeit“ der Grossbanken? Auf diese wichtige Frage finden wir eine ziemlich genaue Antwort bei Jeidels:

„Die Industriebeziehungen mit ihrem neuen Gegenstand, ihren neuen Formen und ihren neuen Organen, das ist den gleichzeitig zentralistisch und dezentralistisch organisierten Grossbanken, bilden sich als charakteristische volkswirtschaftliche Erscheinungen kaum vor den neunziger Jahren; in gewissem Sinne kann man diesen Anfangspunkt sogar erst in das Jahr 1897 mit seinen grossen Fusionen welche die neue Form dezentralistischer Organisation erstmalig aus Gründen industrieller Bankpolitik einführen, oder man kann ihn vielleicht deshalb auf einen noch späteren Termin verlegen, weil die Krise den Konzentrationsprozess wie in der Industrie so im Bankwesen enorm beschleunigt und verstärkt und den Verkehr mit der Industrie erst recht zu einem Monopol der Grossbanken und ihn im Einzelnen bedeutend enger und intensiver gemacht hat.“(45)

Das 20. Jahrhundert ist also der Wendepunkt vom alten zum neuen Kapitalismus, von der Herrschaft des Kapitals schlechthin zu der Herrschaft des Finanzkapitals.

 

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(22) Alfred Lansburgh, „Fünf Jahre deutsches Bankwesen“, „Die Bank“, 1913, Nr. 8, S. 728.

(23) Schulze-Gaevernitz, „Die deutsche Kreditbank“ in „Grundriss der Sozialökonomik“, Tüb. 1915, S. 12 und 137.

(24) R. Liefmann, „Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften. Eine Studie über den modernen Kapitalismus und das Effektenwesen“, 1. Aufl., Jena 1909.

(25) Alfred Lansburgh. „Das Beteiligungssystem im deutschen Bankwesen“, „Die Bank“, 1910, 1, S. 500.

(26) Eugen Kaufmann, „Das französische Bankwesen“, Tüb. 1911, S. 356 und 362.

(27) Jean Lescure, „L’épargne en France“, P. 1914, S. 52.

(28) A. Lansburgh, „Die Bank mit den 300 Millionen“, „Die Bank“, 1914, 1, S. 406.

(29) S. Tschierschky, a.a.O., S. 128.

(30) Angaben der amerikanischen „National Monetary Commission“ in „Die Bank“, 1910, 2, S. 1200.

(31) Ebenda, 1913, S. 811, 1022; 1914, S. 713.

(32) „Die Bank“, 1914, 1, S. 316.

(33) Dr. Oskar Stillich, „Geld- und Bankwesen“, Berlin 1907, S. 169.

(34) Schulze-Gaevernitz, „Die deutsche Kreditbank“ in „Grundriss der Sozialökonomik“, Tüb. 1915, S. 101.

(35) Riesser, a.a.O., 4. Aufl., S. 629.

(36) Schulze-Gaevernitz, „Die deutsche Kreditbank“ in „Grundriss der Sozialökonomik“, Tüb. 1915, S. 151.

(37) „Die Bank“, 1912, 1, S. 435.

(38) Zitiert bei Schulze-Gaevernitz in „Grdr. d. S.-Ök.“, S. 155.

(39) Jeidels und Riesser, a.a.O.

(40) Jeidels, a.a.O., S. 156/157.

(41) Der Artikel Eug. Kaufmanns über die französischen Banken in „Die Bank“, 1909, 2, S. 851 ff.

(42) Jeidels, a.a.O. S. 180.

(43) Dr. Oskar Stillich, „Geld- und Bankwesen“, Berlin 1907, S. 147.

(44) Jeidels, a.a.O. S. 183/184.

(45) Ebenda, S. 181.

III. Finanzkapital und Finanzoligarchie

„Ein immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie“, schreibt Hilferding, „gehört nicht den Industriellen, die es anwenden. Sie erhalten die Verfügung über das Kapital nur durch die Bank, die ihnen gegenüber den Eigentümer vertritt. Anderseits muss die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren. Sie wird damit in immer grösserem Umfang industrieller Kapitalist. Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital.“ Das Finanzkapital ist also „Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen“ (46).

Diese Definition ist insofern unvollständig, als ihr der Hinweis auf eines der wichtigsten Momente fehlt, nämlich auf die Zunahme der Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem so hohen Grad, dass die Konzentration zum Monopol führt und geführt hat. Doch wird in der ganzen Darstellung Hilferdings überhaupt und insbesondere in den zwei Kapiteln, die demjenigen, dem diese Definition entnommen ist, vorangehen, die Rolle der kapitalistischen Monopole hervorgehoben.

Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.

Wir haben jetzt zu schildern, wie das „Wirtschaften“ der kapitalistischen Monopole im allgemeinen Milieu der Warenproduktion und des Privateigentums unvermeidlich zur Herrschaft der Finanzoligarchie wird. Zu bemerken ist, dass die Vertreter der deutschen und nicht allein der deutschen bürgerlichen Wissenschaft wie Riesser, Schulze-Gaevernitz, Liefmann u.a., ausnahmslos Apologeten des Imperialismus und des Finanzkapitals sind. Sie enthüllen nicht die „Mechanik“ der Entstehung der Oligarchie, ihre Methoden, den Umfang ihrer Einkünfte, „der makellosen wie der makelhaften“, ihre Verbindungen mit den Parlamenten usw. usf., sondern vertuschen und beschönigen sie. Sie tun diese „verdammten Fragen“ wichtigtuerisch mit dunkle Phrasen ab, indem sie an das „Verantwortungsgefühl“ der Bankdirektoren appellieren, das „Pflichtgefühl“ der preussischen Beamten in den Himmel heben, sich ernsthaft mit dem Krimskrams ganz unernster Gesetzentwürfe über „Aufsicht“ und „Reglementierung“ beschäftigen und sich mit müssiger theoretischer Tändelei abgehen, in der Art z.B. folgender „wissenschaftlicher“ Definition, zu der sich Professor Liefmann versteigt: „… Handel ist die Erwerbstätigkeit mittelst Sammelns, Vorrathaltens und Zur-Verfügung-Stellens von Gütern …“(47)

(Kursiv und fettgedruckt in dem Werk des Professors.) Demnach hätte es Handel schon beim Urmenschen gegeben, dem Tausch noch unbekannt war, und es müsste ihn auch in der sozialistischen Gesellschaft geben!

Aber die ungeheuerlichen Tatsachen. die die ungeheuerliche Herrschaft der Finanzoligarchie betreffen, springen dermassen in die Augen, dass in allen kapitalistischen Ländern, in Amerika wie in Frankreich und Deutschland, eine Literatur entstanden ist, die vom bürgerlichen Standpunkt ausgeht und dennoch ein annähernd wahres Bild sowie eine natürlich kleinbürgerliche Kritik der Finanzoligarchie gibt.

Die Hauptaufmerksamkeit ist dem „Beteiligungssystem“ zuzuwenden, von dem oben bereits kurz die Rede war. Der deutsche Ökonom Heymann, der diesem System wohl als erster Beachtung geschenkt hat, beschreibt das Wesen der Sache folgendermassen:

„Der Leiter kontrolliert die Muttergesellschaft, diese die Tochtergesellschaften, diese wieder die Enkel usw., so dass man mit nicht allzu grossem Kapital Riesengebiete der Produktion beherrschen kann; denn wenn immer die Herrschaft über 50% des Kapitals zur Kontrolle genügt, so braucht der Leiter nur 1 Mill. zu besitzen, um schon 8 Mill. Kapital bei den Enkelgesellschaften kontrollieren zu können. Schachtelt er noch weiter, so kommt er auf 16 Mill., 32 Mill. usw.“(48)

In Wirklichkeit aber zeigt die Erfahrung, dass der Besitz von 40% der Aktien genügt, um die Kontrolle über eine Aktiengesellschaft zu haben (49), denn ein gewisser Teil der zersplitterten Kleinaktionäre hat in der Praxis gar nicht die Möglichkeit, an den Generalversammlungen teilzunehmen usw. Die „Demokratisierung“ des Aktienbesitzes, von der bürgerliche Sophisten und opportunistische „Auch-Sozialdemokraten“ eine „Demokratisierung des Kapitals“, eine Zunahme der Rolle und Bedeutung der Kleinproduktion usw. erwarten (oder zu erwarten vorgeben), ist in Wirklichkeit eines der Mittel, die Macht der Finanzoligarchie zu vermehren. Aus diesem Grunde lässt übrigens in den fortgeschritteneren oder älteren und „erfahreneren“ kapitalistischen Ländern die Gesetzgebung kleinere Aktien zu. In Deutschland sind Aktien unter 1.000 Mark gesetzlich nicht zugelassen, und die deutschen Finanzmagnaten blicken neidvoll auf England, wo das Gesetz Aktien sogar von 1 Pfund Sterling (= 20 Mark, etwa 10 Rubel) gestattet. Siemens, einer der grössten Industriellen und „Finanzkönige“ Deutschlands, erklärte in der Reichstagssitzung vom 7. Juni 1900 die „Ein-Pfund-Aktie für die Grundlage des britischen Imperialismus“(50). Bei diesem Geschäftsmann ist ein tieferes, „marxistischeres“ Verständnis für das Wesen des Imperialismus festzustellen als bei einem gewissen anmassenden Schriftsteller, der zwar als Begründer des russischen Marxismus gilt, jedoch glaubt, der Imperialismus sei die schlechte Eigenschaft eines einzigen Volkes …

Aber das „Beteiligungssystem“ dient nicht nur dazu, die Macht der Monopolisten riesenhaft zu vermehren, es ermöglicht ausserdem, jede Art von dunklen und schmutzigen Geschäften straflos zu betreiben und das Publikum zu schröpfen, denn formell, nach dem Gesetz, sind die Leiter der „Muttergesellschaft“ für die „Tochtergesellschaft“ nichtverantwortlich, die als „selbständig“ gilt und vermittels derer sich alles „drehen“ lässt. Folgendes Beispiel entnehmen wir dem Maiheft 1914 der deutschen Zeitschrift „Die Bank“:

„So war beispielsweise die Aktiengesellschaft für Federstahlindustrie in Kassel, bis vor einigen Jahren eines der bestrentierenden Unternehmen Deutschlands, durch verkehrte Massnahmen der Verwaltung so heruntergewirtschaftet worden, dass die Dividenden innerhalb weniger Jahre von 15 auf 0% zurückgingen. Die Verwaltung hatte einem Tochterunternehmen, der Hassia G.m.b.H., deren nominelles Kapital nur einige Hunderttausend Mark betrug, ohne Wissen der Aktionäre 6 Mill. M. vorgestreckt. Von diesem Engagement, das fast das Dreifache des Aktienkapitals der Muttergesellschaft ausmachte, war in den Bilanzen der letzteren nichts enthalten; eine Verschleierung, gegen die sich juristisch nicht das mindeste sagen liess und die zwei Jahre hindurch fortgesetzt werden konnte, weil sie keine Bestimmung des Handelsgesetzbuches verletzte. Der Aufsichtsratsvorsitzende, der diese irreführenden Bilanzen verantwortlich zeichnete, war und ist Vorsitzender der Kasseler Handelskammer. Die Aktionäre wurden von dem Hassia-Engagement erst in Kenntnis gesetzt, nachdem es sich längst als ein Fehlschlag“ (dieses Wort hätte der Verfasser in Anführungszeichen setzen sollen) „erwiesen hatte und die Federstahl-Aktien infolge von Verkäufen Wissender etwa 100% im Kurse zurückgegangen waren.

… Dieses Musterbeispiel einer im Aktienwesen ganz alltäglichen Bilanz-Equilibristik macht es verständlich, warum die Verwaltungen von Aktiengesellschaften Risiken im allgemeinen viel leichteren Herzens auf sich nehmen als Privatunternehmer. Die moderne Bilanztechnik macht es ihnen nicht nur leicht, das eingegangene Risiko dem Auge des Durchschnitts-Aktionärs zu verhüllen, sondern sie gestattet den Hauptinteressenten auch, sich den Folgen eines verfehlten Experiments durch rechtzeitige Fortgabe ihres Aktienbesitzes zu entziehen, während der Privatunternehmer bei allem, was er tut, seine eigene Haut zu Markte trägt.

Die Bilanzen zahlreicher Aktiengesellschaften gleichen jenen aus dem Mittelalter bekannten Palimpsesten, bei denen man erst die Schrift auslöschen musste, um die hinter ihr stehenden Zeichen mit dem wirklichen Sinn entziffern zu können.“ (Ein Palimpsest ist ein Pergament, auf dem die ursprüngliche Schrift ausgelöscht und darüber ein anderer Text geschrieben ist.)

„Das einfachste und darum am häufigsten angewandte Mittel, um eine Bilanz undurchsichtig zu machen, besteht in der Spaltung des einheitlichen Betriebes in mehrere Teile in Form einer Errichtung oder Angliederung von Tochtergesellschaften. Die Vorzüge dieses Systems sind im Hinblick auf die verschiedensten Zwecke – legale und illegale – so einleuchtend, dass man grössere Gesellschaften, die das System nicht akzeptiert haben, heute schon als Ausnahmen bezeichnen muss.“(51)

Als Beispiel einer grossen Monopolgesellschaft, die dieses System in weitestem Ausmass anwendet, nennt der Verfasser die berühmte „Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft“ (AEG, von der noch im weiteren die Rede sein wird). Im Jahre 1912 nahm man an, dass die AEG an 175-200 Gesellschaften beteiligt ist, diese selbstverständlich beherrscht und insgesamt über ein Kapital von rund 11/2 Milliarden Mark verfügt. (52)

Alle Vorschriften der Kontrolle, der Veröffentlichung der Bilanzen, der Ausarbeitung eines bestimmten Bilanzschemas, der Einsetzung von Aufsichtsinstanzen u.dgl.m., womit Professoren und Beamte in wohlgemeinter Absicht – d.h. in der Absicht, den Kapitalismus zu verteidigen und zu beschönigen – die Aufmerksamkeit des Publikums in Anspruch nehmen, können hier keinerlei Bedeutung haben. Denn das Privateigentum ist heilig, und man kann niemandem verwehren, Aktien zu kaufen, zu verkaufen, umzutauschen, zu verpfänden usw.

Welche Ausmasse das „Beteiligungssystem“ in den russischen Grossbanken angenommen hat, kann man nach den Angaben von E. Agahd beurteilen, der 15 Jahre in der Russisch-Chinesischen Bank tätig war und im Mai 1914 ein Werk unter dem nicht ganz zutreffenden Titel „Grossbanken und Weltmarkt“ (53) veröffentlicht hat. Der Verfasser teilt die russischen Grossbanken in zwei Hauptgruppen ein: a) solche, die „unter dem Modus der Partizipationen“ arbeiten, und b) solche, die „unabhängig“ sind, wobei jedoch unter „Unabhängigkeit“ ganz willkürlich die Unabhängigkeit von ausländischen Banken verstanden wird. Die erste Gruppe teilt der Verfasser wieder in drei Untergruppen: 1. deutsche, 2. englische und 3. französische Beteiligung, wobei er „Beteiligung“ und Herrschaft ausländischer Grossbanken der betreffenden Nation im Auge hat. Die Kapitalien der Banken teilt der Verfasser in „produktiv“ (in Handel und Industrie) und „spekulativ“ (in Börsen- und Finanzoperationen) angelegte ein; dabei glaubt er von dem ihm eigenen kleinbürgerlich-reformistischen Standpunkt aus, man könne unter Beibehaltung des Kapitalismus die erste Art der Kapitalanlage von der zweiten trennen und die zweite beseitigen.

Der Verfasser macht folgende Angaben:

Bankaktiva (per Oktober/November 1913) in Mill. Rubel
Gruppen der russischen Banken angelegte Kapitalien
produktiv spekulativ insgesamt
a) 1. 4 Banken: Sibirische Handelsbank, Russenbank, Internationale und Diskontobank 413,7 859,1 1.272,8
a) 2. 2 Banken: Russische Handels- und Industriebank, Russisch-Englische Bank 239,3 169,1 408,4
a) 3. 5 Banken: Russisch-Asiatische Bank, Petersburger Privatbank, Asow-Don-Bank, Moskauer Union-Bank, Russisch-Französische Handelsbank 711,8 661,2 1.373,0
b) 8 Banken: Moskauer Kaufmannsbank, Wolga-Kamaa-Kommerzbank, J. W. Junker & Co. St.-Petersburger Handelsbank (vormals Wawelberg), Moskauer Bank (vormals Rjabuschinski), Moskauer Diskontobank, Moskauer Handelsbank und Moskauer Privatbank 504,2 391,1 895,3
(19 Banken) insgesamt 1.869,0 2.080,5 3.949,5

Nach diesen Angaben entfallen von den fast 4 Milliarden Rubel „arbeitenden“ Kapitals der Grossbanken mehr als drei Viertel, über 3 Milliarden, auf Banken, die im Grund genommen „Tochtergesellschaften“ von ausländischen, vor allen Dingen von Pariser Banken (das berühmte Banktrio: „Bank der Pariser Union“; „Pariser und Niederländische Bank“; „Allgemeine Gesellschaft“) und von Berliner Banken (besonders „Deutsche Bank“ und „Disconto-Gesellschaft“) sind. Zwei russische Grossbanken, die „Russenbank“ (Russische Bank für auswärtigen Handel“) und die „Internationale Bank“ („St.-Petersburger Internationale Handelsbank“) haben ihre Kapitalien von 1906 bis 1912 von 44 auf 98 Mill. Rubel und ihre Reserven von 15 auf 39 Mill. erhöht, wobei sie „zu 3/4 mit deutschem Kapital arbeiten“. Die erste gehört zum „Konzern“ der Berliner „Deutschen Bank“, die zweite zu dem der Berliner „Disconto-Gesellschaft“. Der gute Agahd ist zutiefst empört darüber, dass die Berliner Banken die Aktienmehrheit in ihren Händen haben und die russischen Aktionäre daher machtlos sind. Natürlich schöpft das Land, das Kapital exportiert, den Rahm ab; z.B. liess die Berliner „Deutsche Bank“, als sie die Aktien der Sibirischen Handelsbank in Berlin einführte, diese ein Jahr lang in ihrem Portefeuille liegen, um sie nachher zum Kurs von 193 für 100, d.h. um nahezu das Doppelte, zu verkaufen; sie „verdiente“ dabei rund 6 Mill. Rubel ein Profit, den Hilferding „Gründergewinn“ genannt hat.

Die ganze „Machtbilanz“ der Petersburger Grossbanken schätzt der Verfasser auf 8.235 Millionen Rubel oder nahezu 81/4 Milliarden; dabei verteilt er die „Beteiligung“ oder richtiger die Herrschaft der ausländischen Banken folgendermassen: die französischen Banken 55%, die englischen 10%, die deutschen 35%. Von der Summe des funktionierenden Kapitals in Höhe von 8.235 Millionen entfallen 3.687 Millionen, d.h. mehr als 40%, laut Berechnung des Verfassers auf die Syndikate Produgol und Prodamet sowie auf die Syndikate der Erdöl-, metallurgischen und Zementindustrie. Die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital, im Zusammenhang mit der Bildung kapitalistischer Monopole, hat also auch in Russland enorme Fortschritte gemacht.

Das Finanzkapital, das in wenigen Händen konzentriert ist und faktisch eine Monopolstellung einnimmt, zieht kolossale und stets zunehmende Profite aus Gründungen, aus dem Emissionsgeschäft, aus Staatsanleihen usw., verankert die Herrschaft der Finanzoligarchie und legt der gesamten Gesellschaft einen Tribut zugunsten der Monopolisten auf. Hier eines der zahllosen von Hilferding angeführten Beispiele für das „Wirtschaften“ der amerikanischen Trusts: Im Jahre 1887 gründete Havemeyer den Zuckertrust durch Verschmelzung von 15 kleinen Gesellschaften mit einem Gesamtkapital von 61/2 Millionen Dollar. Das Kapital des Trusts wurde aber, wie der amerikanische Ausdruck lautet, „verwässert“ und auf 50 Millionen festgesetzt. Diese „Überkapitalisation“ nahm die künftigen Monopolprofite vorweg, wie auch der Stahltrust – ebenfalls in Amerika – künftige Monopolprofite vorwegnimmt, wenn er immer neue Eisenerzvorkommen aufkauft. Und in der Tat führte der Zuckertrust Monopolpreise ein und erzielte derartige Gewinne, dass er für das siebenfach „verwässerte“ Kapital 10 Prozent Dividende auszahlen konnte, d.h. fast 70 Prozent auf das bei Gründung des Trusts tatsächlich einbezahlte Kapital! 1909 wies der Trust ein Kapital von 90 Mill. Dollar aus. Also in zweiundzwanzig Jahren mehr als eine Verzehnfachung des Kapitals.

In Frankreich hat die Herrschaft der „Finanzoligarchie“ („Gegen die Finanzoligarchie in Frankreich“ heisst das bekannte Buch von Lysis, das 1908 in fünfter Auflage erschien) eine nur wenig gewandelte Form angenommen. Die vier grössten Banken besitzen nicht ein relatives, sondern ein „absolutes Monopol“ bei der Emission von Wertpapieren. Tatsächlich ist das ein „Trust der Grossbanken“. Das Monopol sichert Monopolprofite bei den Emissionen. Das borgende Land erhält bei Anleihen gewöhnlich nicht mehr als 90% der Summe: 10% fallen den Banken und den übrigen Vermittlern zu. Bei der russisch-chinesischen Anleihe von 400 Mill. Francs profitierten die Banken 8%; bei der russischen (1904) von 800 Mill. 10%; bei der marokkanischen (1904) von 621/2 Mill. Francs 183/4%. Der Kapitalismus, der seine Entwicklung als kleines Wucherkapital begann, beendet seine Entwicklung als riesiges Wucherkapital. „Die Franzosen sind die Wucherer Europas“, sagt Lysis. Alle Verhältnisse des Wirtschaftslebens erfahren infolge dieser Wandlung des Kapitalismus eine tiefgehende Veränderung. Bei Stagnation des Bevölkerungsstandes, der Industrie, des Handels und der Seeschiffahrt kann sich das „Land“ durch Wucher bereichern. „Fünfzig Personen mit einem Kapital von 8 Millionen Francs verfügen über zwei Milliarden in den vier Banken.“ Das uns bereits bekannte „Beteiligungs“system führt zu denselben Folgen: Eine der grössten Banken Frankreichs, die „Allgemeine Gesellschaft“ (Société Generale) gab 64.000 Obligationen der „Töchtergesellschaft“, „Zuckerraffinerien von Ägypten“, aus. Der Emissionskurs war 150%, d.h., die Bank verdiente an jedem Rubel 50 Kopeken. Die Dividenden dieser Gesellschaft erwiesen sich als fiktiv, das „Publikum“ verlor von 90 bis 100 Mill. Francs; „einer der Direktoren der ‚Société Generale‘ war Mitglied des Verwaltungsrats der ‚Raffinerien'“. Es ist nicht verwunderlich, dass Lysis den Schluss zu ziehen gezwungen ist: „Die französische Republik ist eine Finanzmonarchie“; „die volle Herrschaft der Finanzoligarchie; sie herrscht unumschränkt über Presse und Regierung“. (54)

Bei der Entwicklung und Festigung der Finanzoligarchie spielt die ausserordentlich gewinnbringende Emission von Wertpapieren als eine der wichtigsten Transaktionen des Finanzkapitals eine sehr wichtige Rolle. „Es gibt im Inlande kein Geschäft dieser Art, das auch nur annähernd einen solchen Nutzen abwirft wie die Übernahme und Weiterbegebung einer fremden Anleihe“, schreibt die deutsche Zeitschrift „Die Bank“ (55).

„Es gibt kein Bankgeschäft, welches so grosse Gewinne mit sich brächte wie das Emissionsgeschaft.“ Der Gewinn bei der Emission von Industrieaktien betrug nach einer Zusammenstellung des „Deutschen Ökonomist“ im Durchschnitt der Jahre:

1895 – 38,6% — 1898 – 67,7%
1896 – 36,1% — 1899 – 66,9%
1897 – 66,7% — 1900 – 55,2%

„In dem Jahrzehnt von 1894 bis 1900 sind an deutschen Industriewerten allein über eine Milliarde Agio ‚verdient‘ worden.“(56)

Während zur Zeit des industriellen Aufschwungs die Profite des Finanzkapitals unerhört gross sind, gehen in Zeiten des Niedergangs die kleinen und schwachen Unternehmungen zugrunde, die Grossbanken aber „beteiligen sich“ dann an deren Aufkauf zu Spottpreisen oder an profitablen „Sanierungen“ und „Reorganisationen“. Bei den „Sanierungen“ der mit Verlust arbeitenden Unternehmungen wird „das Aktienkapital herabgesetzt; das heisst, das Erträgnis verteilt sich auf ein geringeres Kapital, ist diesem alsdann angemessen. Oder wenn kein Erträgnis da ist, so wird neues Kapital aufgebracht, das, mit dem minderbewerteten alten zusammengenommen, nunmehr genügenden Ertrag abwirft. Nebenbei“, fügt Hilferding hinzu, „sei bemerkt, dass diese Sanierungen und Reorganisationen für die Banken von doppelter Bedeutung sind: erstens als gewinnbringendes Geschäft und zweitens als eine Gelegenheit, solche notleidenden Gesellschaften von sich in Abhängigkeit zu bringen.“(57)

Ein Beispiel: Die Aktiengesellschaft für Bergbau “ Union“ in Dortmund ist 1872 gegründet worden. Es wurden Aktien in Höhe von fast 40 Mill. Mark aufgelegt, und als im ersten Jahr eine Dividende von 12% ausgeschüttet wurde, stieg der Kurs auf 170%. Das Finanzkapital schöpfte den Rahm ab und steckte die Kleinigkeit von etwa 28 Millionen ein. Bei der Gründung dieser Gesellschaft spielte die Hauptrolle die „Disconto-Gesellschaft“, dieselbe deutsche Grossbank, die es glücklich auf ein Kapital von 300 Mill. Mark gebracht hat. Später sinken die Dividenden der „Union“ auf Null. Die Aktionäre müssen sich damit einverstanden erklären, dass Kapital „abgeschrieben“ wird d.h., dass sie, um nicht das Ganze einzubüssen, einen Teil des Gelde verlieren. Und als Resultat einer Kette von „Sanierungen“ verschwinden aus den Büchern der „Union“ im Laufe von 30 Jahren über 73 Millionen Mark. „Heute hat der ursprüngliche Aktionär dieser Gesellschaft nur noch 5 Prozent des Nominalwertes seiner Unionaktien in der Hand“ (58), und bei jeder „Sanierung“ „verdienten“ die Banken weiter.

Eine besonders gewinnbringende Transaktion des Finanzkapitals ist auch die Spekulation mit Grundstücken in der Umgebung schnell wachsender Grossstädte. Das Bankmonopol verschmilzt hier mit den Monopolen der Grundrente und des Verkehrswesens, denn das Steigen der Preise für Grundstücke, die Möglichkeit, diese in Parzellen günstig zu verkaufen u.a.m., hängt vor allem von der guten Verkehrsverbindung mit dem Zentrum der Stadt ab, und diese Verkehrsmittel befinden sich in den Händen grosser Gesellschaften, die durch das Beteiligungssystem und die Verteilung von Direktorenposten mit eben denselben Banken verbunden sind. So entsteht das, was der deutsche Schriftsteller L. Eschwege, ein Mitarbeiter der Zeitschrift „Die Bank“, der den Terrainhandel, die Verpfändung von Grundstücken usw. speziell studierte, den „Sumpf“ genannt hat: wahnwitzige Spekulation mit Vorortgrundstücken, Zusammenbrüche von Baufirmen, wie der Berliner Firma Boswau & Knauer, die ein Kapital von ungefähr 100 Millionen Mark zusammengerafft hatte, und zwar durch Vermittlung der „höchst soliden und grossen“ „Deutschen Bank“, die natürlich nach dem „Beteiligungs“system, d.h. insgeheim, hinterrücks, tätig war und sich nach Einbusse von „bloss“ 12 Millionen Mark aus der Affäre zog; ferner Ruinierung von kleinen Unternehmern und Arbeitern, die von den Schwindelfirmen des Baugewerbes nichts erhalten; dazu betrügerische Abmachungen mit der „ehrlichen“ Berliner Polizei und den Verwaltungsorganen, um sich des Auskunftswesens im Baugewerbe und der Baubewilligung der Stadtverwaltung zu bemächtigen usw. usf. (59)

Die „amerikanischen Sitten“, vor denen europäische Professoren und wohlgesinnte Bürger so heuchlerisch die Augen zum Himmel aufschlagen, sind in der Epoche des Finanzkapitals buchstäblich zu Sitten einer jeden Grossstadt in jedem beliebigen Lande geworden.

In Berlin war Anfang 1914 davon die Rede, einen „Verkehrstrust“ zu gründen, d.h. eine „Interessengemeinschaft“ zwischen den drei Berliner Verkehrsunternehmen: Hochbahn, Strassenbahn und Omnibusgesellschaft. „Dass eine solche Absicht besteht“, schrieb „Die Bank“, „weiss man schon seit dem Tage, wo es bekannt wurde, dass die Aktienmehrheit des Omnibusunternehmens in den Besitz der beiden anderen Verkehrsgesellschaften übergegangen war… man kann den Betreibern dieser Pläne ohne weiteres glauben, dass sie durch eine einheitliche Regelung des Verkehrswesens Ersparnisse zu erzielen hoffen, von denen ein Teil schliesslich auch dem Publikum zugutekommen könnte. Die Frage wird aber dadurch kompliziert, dass hinter dem sich bildenden Verkehrstrust Banken stehen, die, wenn sie wollen, den von ihnen monopolisierten Verkehr in den Dienst ihrer Terraininteressen stellen können. Dass dieser Gedanke sehr naheliegt, leuchtet ein, wenn man sich erinnert, dass schon bei der Gründung der Hochbahngesellschaft eine Verquickung von Verkehrsinteressen mit den Terraininteressen der die Hochbahn patronisierenden Grossbank stattgefunden, ja sogar eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung dieses Verkehrsunternehmens gebildet hat. Die östliche Linie der Hochbahn sollte die Terrains erschliessen, welche die Bank, nachdem die Bahn gesichert war, mit hohem Nutzen für sich und einige Mitbeteiligte an die Terraingesellschaft am Bahnhof Schönhauser Allee verkauft hat.“(60)

Ist das Monopol einmal zustande gekommen und schaltet und waltet es mit Milliarden, so durchdringt es mit absoluter Unvermeidlichkeit alle Gebiete des öffentlichen Lebens, ganz unabhängig von der politischen Struktur und beliebigen anderen „Details“. In der deutschen ökonomischen Literatur ist es üblich, die Unbestechlichkeit des preussischen Beamtentunis lakaienhaft über den grünen Klee zu loben, mit deutlichen Seitenhieben auf den französischen Panamaskandal und die amerikanische politische Korruption. Aber es ist eine Tatsache, dass sogar die bürgerliche Literatur über das deutsche Bankwesen fortwährend gezwungen ist, weit über die Behandlung reiner Bankoperationen hinauszugehen und beispielsweise aus Anlass der sich häufenden Fälle des Übertritts von Regierungsbeamten in den Bankdienst von einem „Zug zur Bank“ zu schreiben: „Wie steht es aber um die Unbefangenheit eines Staatsbeamten, dessen stilles Sehnen ein warmes Plätzchen in der Behrenstrasse ist?“(61) – die Strasse in Berlin, wo die „Deutsche Bank“ ihren Hauptsitz hat. Der Herausgeber der Zeitschrift „Die Bank“, Alfred Lansburgh, schrieb 1909 in dem Artikel „Die wirtschaftliche Bedeutung des Byzantinismus“ unter anderem über die Palästinareise Wilhelms II. und „ihre unmittelbare Folge, die Bagdadbahn, dieses verhängnisvolle ‚Standardwerk deutschen Unternehmergeistes‘, das an der ‚Einkreisung‘ mehr schuld ist als alle unsere politischen Fehler zusammengenommen“(62). (Unter Einkreisung wird die Politik Eduards VII. verstanden, der bestrebt war, Deutschland zu isolieren und es mit dem Ring eines imperialistischen deutschfeindlichen Bündnisses zu umgeben.) Der von uns bereits erwähnte Mitarbeiter derselben Zeitschrift, Eschwege, schrieb 1914 den Artikel „Plutokratie und Beamtenschaft“, in dem er Enthüllungen z.B. über den Fall des deutschen Regierungsrats Völker brachte, der sich als Mitglied der Kartellkommission durch seine Energie hervorgetan hatte, aber kurze Zeit darauf bei dem grössten Kartell, dem Deutschen Stahlwerksverband, in hochdotierter Stellung auftauchte Ähnliche Fälle, die durchaus nicht zufällig sind, zwangen denselben bürgerlichen Schriftsteller einzugestehen, dass „schon heute die von der Verfassung gewährleistete wirtschaftliche Freiheit auf vielen Gebieten des heimischen Erwerbslebens zu einer inhaltslosen Phrase geworden ist“ und dass bei der bestehenden Herrschaft der Plutokratie „selbst die weitgehendste politische Freiheit uns nicht mehr davor retten kann, dass wir zu einem Volk von Unfreien werden“(63).

Was Russland betrifft, so wollen wir uns auf ein Beispiel beschränken: Vor einigen Jahren ging durch alle Zeitungen die Nachricht, dass der Direktor der Kreditkanzlei, Dawydow, den Staatsdienst quittiert und einen Posten in einer Grossbank übernimmt, mit einem Gehalt, das laut Vertrag in wenigen Jahren über eine Million Rubel betragen soll. Die Kreditkanzlei ist eine Institution, deren Aufgabe die „Vereinheitlichung der Tätigkeit aller Kreditinstitutionen des Reiches“ ist und die den hauptstädtischen Banken Subsidien bis zu 800 und 1.000 Millionen Rubel gewährt. (64) —

Die Trennung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschliesslich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Stauten, die finanzielle „Macht“ besitzen. In welchen Ausmassen dieser Prozess vor sich geht, lasst sich beurteilen an Hand der Statistik der Emissionen, d.h. der Ausgabe von Wertpapieren aller Art.

Im „Bulletin des Internationalen Statistischen Instituts“ veröffentlichte A. Neymarck (65) sehr ausführliche, vollständige und gut vergleichbare Daten über die Emissionen in der ganzen Welt, Daten, die später wiederholt in der ökonomischen Literatur in Auszügen angeführt wurden. Hier die Resultate von vier Jahrzehnten:

Summe der Emissionen in Milliarden Francs nach Jahrzehnten
1871-1880 76,1
1881-1890 64,5
1891-1900 100,4
1901-1910 197,8

In den siebziger Jahren erhöhte sich die Gesamtsumme der Emissionen in der ganzen Welt besonders durch Anleihen im Zusammenhang mit dem Deutsch-Französischen Krieg und der darauffolgenden Gründerperiode in Deutschland. Im Grossen ganzen geht die Vermehrung im Laufe der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verhältnismässig nicht sehr rasch vor sich, und erst das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bringt eine gewaltige Vermehrung, fast eine Verdoppelung in zehn Jahren. Der Anfang des 20. Jahrhunderts bildet also den Wendepunkt nicht nur in bezug auf das Wachstum der Monopole (Kartelle, Syndikate und Trusts), wovon bereits die Rede war, sondern auch in bezug auf das Anwachsen des Finanzkapitals.

Die Gesamtsumme der Wertpapiere in der ganzen Welt schätzt Neymarck für das Jahr 1910 ungefähr auf 615 Milliarden Francs. Nach annähernder Berechnung der Doppelzählungen reduziert er die Summe auf 575-600 Milliarden. Sie verteilen sich nach Ländern (unter Zugrundelegung von 600 Milliarden) wie folgt:

Summe der Wertpapiere 1910 (in Milliarden Francs)

England 142 Holland 12,5
Vereinigte Staaten 132 Belgien 7,5
Frankreich 110 Spanien 7,5
Deutschland 95 Schweiz 6,25
Russland 31 Dänemark 3,25
Österreich-Ungarn 24 Schweden,
Italien 14 Norwegen,
Japan 12 Rumänien u.a. 2,5
Summa 600,0

 

Aus diesen Daten ist sofort ersichtlich, wie scharf sich die vier reichsten kapitalistischen Landet abheben, von denen jedes Wertpapier von ungefähr 100 bis 150 Milliarden Francs besitzt. Von diesen vier Ländern sind zwei – England und Frankreich – die ältesten und, wie wir weitersehen werden, an Kolonien reichsten kapitalistischen Länder; die beiden anderen – die Vereinigten Staaten und Deutschland – sind fortgeschrittene kapitalistische Länder nach dem Entwicklungstempo und dem Verbreitungsgrad der kapitalistischen Monopole in der Produktion. Diese vier Länder zusammen besitzen 479 Milliarden Francs, d.h. nahezu 80% des Weltfinanzkapitals. Fast die ganze übrige Welt spielt so oder anders die Rolle des Schuldners und Tributpflichtigen dieser Länder – der internationalen Bankiers, dieser vier „Säulen“ des Weltfinanzkapitals.

Ganz besonders muss auf die Rolle eingegangen werden, die bei der Schaffung des internationalen Netzes der Abhängigkeiten und der Verbindungen des Finanzkapitals der Kapitalexport spielt.

 

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(46) R. Hilferding, „Das Finanzkapital“, M. 1912, S. 338/339.

(47) R. Liefmann, a.a.O. S. 476.

(48) Hans Gideon Heymann, „Die gemischten Werke im deutschen Grosseisengewerbe“, St. 1904, S. 268/269.

(49) Liefmann, „Beteiligungsges. etc.“, 1. Aufl., S. 258.

(50) Schulze-Gaevernitz in „Grdr. d. S.-Ök.“, V, 2, S. 100.

(51) L. Eschwege, „Tochtergesellschaften „, „Die Bank“, 1914, 1, S. 545.

(52) Kurt Heinig, „Der Weg des Elektrotrusts“, „Die Neue Zeit“, 1912, 30. Jahrg., 2, S. 484.

(53) E. Agahd, „Grossbanken und Weltmarkt. Die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Grossbanken im Weltmarkt unter Berücksichtigung ihres Einflusses auf Russlands Volkswirtschaft und die deutsch-russischen Beziehungen“, Brl. 1914.

(54) Lysis, „Contre l’oligarchie financière en France“, 5, éd., Paris 1908, S. 11, 12, 26, 39, 40, 48.

(55) „Die Bank“, 1913, Nr. 7. S. 630.

(56) Stillich, a.a.O., S. 143, und W. Sombart, „Die deutsche Volkswirtschaft im 19, Jahrhundert“, 2. Aufl., 1909, S. 526, Anlage 8.

(57) „Das Finanzkapital“, S. 172.

(58) Stillich, a.a.O., S. 138, und Liefmann, S. 51.

(59) L. Eschwege, „Der Sumpf“ in „Die Bank“, 1913, S. 952; ebenda, 1912, 1, S. 223 ff.

(60) „Verkehrstrust“, „Die Bank“, 1914, 1, S. 89.

(61) „Der Zug zur Bank“, „Die Bank“, 1909. 1, S. 79.

(62) Ebenda, S. 301 ff.

(63) Ebenda, 1911, 2, S. 828; 1913, 2, S. 962.

(64) E. Agahd, S. 202.

(65) „Bulletin de l’Institut international de Statistique“, t. XIX, livr. II, La Haye, 1912. Die Daten über die Kleinstaaten, zweite Spalte, sind annähernd berechnet, und zwar nach den Zahlen von 1902, vermehrt um 20%.

 

 

IV. Der Kapitalexport

Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus, mit der Herrschaft der Monopole, ist der Export von Kapital kennzeichnend geworden.

Kapitalismus ist Warenproduktion auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung, auf der auch die Arbeitskraft zur Ware wird. Die Zunahme des Warenaustausches sowohl innerhalb des Landes wie auch insbesondere des internationalen Warenaustausches ist ein charakteristisches Merkmal des Kapitalismus. Die Ungleichmässigkeit und Sprunghaftigkeit in der Entwicklung einzelner Unternehmungen, einzelner Industriezweige und einzelner Länder ist im Kapitalismus unvermeidlich. Zuerst wurde England, vor den anderen Ländern, ein kapitalistisches Land, und um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als es den Freihandel einführte, nahm es für sich in Anspruch, die „Werkstatt der Welt“ zu sein, alle Länder mit Fertigfabrikaten zu versorgen, die ihm im Austausch Rohstoffe liefern sollten. Aber dieses Monopol Englands war bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchbrochen, denn eine Reihe anderer Länder hatte sich, durch „Schutz“zölle gesichert, zu selbständigen kapitalistischen Staaten entwickelt. An der Schwelle des 20. Jahrhunderts sehen wir die Bildung von Monopolen anderer Art: erstens Monopolverbände der Kapitalisten in allen Ländern des entwickelten Kapitalismus; zweitens Monopolstellung der wenigen überaus reichen Länder, in denen die Akkumulation des Kapitals gewaltige Ausmasse erreicht hat. Es entstand ein ungeheurer „Kapitalüberschuss“ in den fortgeschrittenen Ländern.

Freilich, wäre der Kapitalismus imstande, die Landwirtschaft zu entwickeln, die jetzt überall weit hinter der Industrie zurückgeblieben ist, könnte er die Lebenshaltung der Massen der Bevölkerung heben, die trotz des schwindelerregenden technischen Fortschritts überall ein Hunger- und Bettlerdasein fristet – dann könnte von einem Kapitalüberschuss nicht die Rede sein. Und das ist auch das „Argument“, das allgemein von kleinbürgerlichen Kritikern des Kapitalismus vorgebracht wird. Aber dann wäre der Kapitalismus nicht Kapitalismus, denn die Ungleichmässigkeit der Entwicklung wie das Hungerdasein der Massen sind wesentliche, unvermeidliche Bedingungen und Voraussetzungen dieser Produktionsweise. Solange der Kapitalismus Kapitalismus bleibt, wird der Kapitalüberschuss nicht zur Hebung der Lebenshaltung der Massen in dem betreffenden Lande verwendet – denn das würde eine Verminderung der Profite der Kapitalisten bedeuten -, sondern zur Steigerung der Profite durch Kapitalexport ins Ausland, in rückständige Länder. In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältnismässig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig. Die Möglichkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, das eine Reihe rückständiger Länder bereits in den Kreislauf des Weltkapitalismus hineingezogen ist, die Hauptlinien der Eisenbahnen bereits gelegt oder in Angriff genommen, die elementaren Bedingungen der industriellen Entwicklung gesichert sind usw. Die Notwendigkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffen, das in einigen Ländern der Kapitalismus „überreif“ geworden ist und dem Kapital (unter der Voraussetzung der Unentwickeltheit der Landwirtschaft und der Armut der Massen) ein Spielraum für „rentable“ Betätigung fehlt.

Folgende annähernde Zahlen zeigen, wieviel Kapital die drei Hauptländer im Ausland investiert haben. (66)

Im Ausland investiertes Kapital
(in Milliarden Franc)
Jahr England Frankreich Deutschland
1862 3,6
1872 15 10 (1869)
1882 22 15 (1880) ?
1893 42 20 (1890) ?
1902 62 27-37 12,5
1914 75-100 60 44

Daraus ersehen wir, dass die Kapitalausfuhr erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Riesendimensionen angenommen hat. Vor dem Kriege erreichte das im Ausland investierte Kapital der drei Hauptländer 175 bis 200 Milliarden Francs. Der Ertrag aus diesem Kapital, bescheiden zu 5% gerechnet, muss etwa 8-10 Milliarden Francs im Jahr erreicht haben. Welch solide Basis für die imperialistische Unterdrückung und Ausbeutung der meisten Nationen und Länder der Welt, für den kapitalistischen Parasitismus einiger reicher Staaten!

Wie verteilt sich dieses im Ausland investierte Kapital auf die verschiedenen Länder, wo ist es angelegt? Auf diese Frage kann man nur eine annähernde Antwort geben, die jedoch geeignet ist, gewisse allgemeine Wechselbeziehungen und Zusammenhänge des modernen Imperialismus zu beleuchten:

Erdteile, auf die sich die im Ausland investierten Kapitalien (annähernd) verteilen (um 1910)
England Frankreich Deutschland Zusammen
(in Milliarden Mark)
Europa 4 23 18 45
Amerika 37 4 10 51
Asien, Afrika, Australien 29 8 7 44
Insgesamt 70 35 35 140

In England steht an erster Stelle sein Kolonialbesitz, der auch in Amerika sehr gross ist (z.B. Kanada), von Asien usw. gar nicht zu reden. Die riesige Ausfuhr von Kapital ist hier aufs engste mit den riesigen Kolonien verknüpft, von deren Bedeutung für den Imperialismus weiter unten noch die Rede sein wird. Anders in Frankreich. Frankreich hat sein exportiertes Kapital hauptsächlich in Europa und vor allem in Russland (nicht weniger als 10 Milliarden Francs) investiert; dabei handelt es sich vorwiegend um Leihkapital, um Staatsanleihen, und nicht um Kapital das in Industriebetrieben angelegt ist. Zum Unterschied vom englischen Kolonialimperialismus könnte man den französischen einen Wucherimperialismus nennen. In Deutschland finden wir eine dritte Abart: Deutschlands Kolonialbesitz ist nicht gross, und sein im Ausland investiertes Kapital verteilt sich am gleichmässigsten auf Europa und Amerika.

Der Kapitalexport beeinflusst in den Ländern, in die er sich ergiesst, die kapitalistische Entwicklung, die er ausserordentlich beschleunigt. Wenn daher dieser Export bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden Ländern zu hemmen geeignet ist, so kann dies nur um den Preis einer Ausdehnung und Vertiefung der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt geschehen

Die kapitalexportierenden Länder haben fast immer die Möglichkeit, gewisse „Vorteile“ zu erlangen, deren Charakter die Eigenart der Epoche des Finanzkapitals und der Monopole ins rechte Licht setzt. Die Berliner Zeitschrift „Die Bank“ schrieb z.B. im Oktober 1913 folgendes:

„Am internationalen Kapitalmarkt spielt sich seit kurzem eine Komödie ab, die des Griffels eines Aristophanes würdig ist. Zahlreiche Fremdstaaten, von Spanien bis zu den Balkanländern, von Russland bis zu Argentinien, Brasilien und China, treten offen oder heimlich an die grossen Geldmärkte mit ihren Anleiheforderungen heran, von denen einige ausserordentlich dringlich sind. Die Geldmärkte sind zwar in keiner sonderlich guten Verfassung, und auch die politischen Aspekte sind noch immer nicht rosenfarbig. Aber dennoch wagt keiner der Geldmärkte, sich den fremden Ansprüchen zu versagen, aus Furcht, der Nachbar könne ihm zuvorkommen, die Anleihe bewilligen und sich damit ein Anrecht auf gewisse kleine Gegendienste sichern. Es fällt ja bei solchen internationalen Geschäften immer etwas für den Geldgeber ab, sei es ein handelspolitischer Vorteil oder eine Kohlenstation, sei es ein Hafenbau, eine fette Konzession oder ein Kanonen-Auftrag.“(67)

Das Finanzkapital erzeugte die Epoche der Monopole. Die Monopole sind aber überall Träger monopolistischer Prinzipen: An Stelle der Konkurrenz auf offenem Markt tritt die Ausnutzung der „Verbindungen“ zum Zweck eines profitablen Geschäftes. Die gewöhnlichste Erscheinung ist: Bei einer Anleihe wird zur Bedingung gemacht, dass ein Teil der Anleihe zum Kauf von Erzeugnissen des kreditgebenden Landes, vor allem von Waffen, Schiffen usw. verausgabt wird. Frankreich hat in den letzten zwei Jahrzehnten (1890-1910) sehr oft zu diesem Mittel gegriffen. Der Kapitalexport wird zu einem Mittel, den Warenexport zu fördern. Die Abmachungen zwischen den besonders grossen Unternehmungen sind dabei derart, dass sie, wie Schilder „gelinde“ sagte (68) „an Korruption gemahnen“. Krupp in Deutschland, Schneider in Frankreich, Armstrong in England – das sind Musterbeispiele von Firmen, die mit den Riesenbanken und der Regierungen in enger Verbindung stehen und beim Abschluss von Anleihen nicht so leicht „umgangen“ werden können.

Frankreich, das Russland Anleihen gewährte, „drückte“ Russland im Handelsvertrag vom 16. September 1905 „an die Wand“, indem es sich gewisse Zugeständnisse bis 1917 ausbedang; dasselbe geschah bei dem Handelsvertrag mit Japan vom 19. August 1911. Der Zollkrieg Österreichs gegen Serbien, der mit einer siebenmonatigen Unterbrechung von 1906 bis 1911 dauerte, war zum Teil durch die Konkurrenz Österreichs und Frankreichs bei der Lieferung von Kriegsmaterial an Serbien veranlasst worden. Paul Deschanel erklärte im Januar 1912 in der Kammer, dass französische Firmen in den Jahren 1905-1911 an Serbien für 45 Millionen Francs Kriegsmaterial geliefert haben.

In einem Bericht des österreichisch-ungarischen Konsuls in São Paulo (Brasilien) heisst es: „Der Ausbau der brasilianischen Eisenbahnen erfolgt zumeist mittels französischer, belgischer, britischer und deutscher Kapitalien; die betreffenden Länder sichern sich bei den mit dem Bahnbau zusammenhängenden finanziellen Operationen auch die Lieferungen für das nötige Eisenbahnmaterial.“

Auf diese Weise wirft das Finanzkapital im buchstäblichen Sinne des Wortes seine Netze über alle Länder der Welt aus. Eine grosse Rolle spielen dabei die in den Kolonien gegründeten Banken und ihre Niederlassungen. Die deutschen Imperialisten betrachten voller Neid die „alten“ Kolonialländer, die sich in dieser Hinsicht besonders „erfolgreich“ versorgt haben: Im Jahre 1904 besass England 50 Kolonialbanken mit 2.279 Niederlassungen (1910: 72 mit 5.449 Niederlassungen); Frankreich 20 mit 436 Niederlassungen; Holland 16 mit 68 und Deutschland „im Ganzen nur“ 13 mit 70 Niederlassungen. (69) Die amerikanischen Kapitalisten beneiden ihrerseits die englischen und deutschen. „In Südamerika“, klagten sie 1915, „haben 5 deutsche Banken 40 Filialen und 5 englische haben 70 Filialen … England und Deutschland haben in den letzten 25 Jahren in Argentinien, Brasilien und Uruguay annähernd 4.000 Millionen Dollar angelegt und sind infolgedessen zu 46% an dem gesamten Handel dieser drei Länder beteiligt.“(70)

Die kapitalexportierenden Länder haben, im übertragenen Sinne, die Welt unter sich verteilt. Aber das Finanzkapital führt auch zur direkten Aufteilung der Welt.

 

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(66) Hobson, „Imperialismus, L. 1902, S. 58; Riesser, a.a.O. S. 395 und 404; P. Arndt im „Weltwirtschaftlichen Archiv“, Bd. 7, 1916, S. 35; Neymarck im „Bulletin“; Hilferding. „Das Finanzkapital“, S. 492; Lloyd George, Unterhausrede vom 4. Mai 1915 nach dem „Daily Telegraph“ vom 5. Mai 1915; B. Harms, „Probleme der Weltwirtschaft“, Jena 1912, S. 235 u.a.; Dr. Sigmund Schilder, „Entwicklungstendenzen der Weltwirtschaft“, Berlin 1912, Band 1, S. 150; George Paish, „Great Britain’s Capital Investments etc.“, im „Journal of the Royal Statistical Society“, vol. LXXIV, 1910/11, S. 167 ff.; Georges Diouritch, „L’Expansion des banques allemandes à l’étranger, ses rapports avec le développement économique de l’Allemagne“, Paris 1909, S. 84.

(67) „Die Bank“, 1913, 2, S. 1024/1225.

(68) Schilder, a.a.O., S. 346, 350, 371.

(69) Riesser, a.a.O., 4. Aufl., S. 375, und Diouritch, S. 283.

(70) „The Annals of the American Academy of Political and Social Science“, vol. LIX, May 1915, S. 301; ebenda, S. 331, lesen wir, dass der bekannte Statistiker Paish im letzten Heft der Finanzzeitschrift „Statist“ die Summe des von England, Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland exportierten Kapitals auf 40 Milliarden Dollar, d.h. 200 Milliarden Francs, schätzt.

 

 

 

V. Die Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände

Die Monopolverbände der Kapitalisten – die Kartelle, Syndikate und Trusts – teilen vor allem den ganzen Binnenmarkt unter sich auf, indem sie die Produktion des betreffenden Landes mehr oder weniger vollständig an sich reissen. Aber der Binnenmarkt hängt unter dem Kapitalismus untrennbar mit dem Aussenmarkt zusammen. Der Kapitalismus hat längst den Weltmarkt geschaffen. Und in dem Masse, wie der Kapitalexport wuchs und die ausländischen und kolonialen Verbindungen und „Einflusssphären“ der riesigen Monopolverbände sich in jeder Weise erweiterten, kam es „natürlicherweise“ unter ihnen zu Abmachungen im Weltmassstab, zur Bildung von internationalen Kartellen.

Das ist eine neue Stufe der Weltkonzentration des Kapitals und der Produktion, eine unvergleichlich höhere Stufe als die vorangegangenen. Wir wollen sehen, wie dieses Übermonopol heranwächst.

Am typischsten für die neuesten Fortschritte der Technik, für den Kapitalismus am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Elektroindustrie. Sie entwickelte sich am stärksten in den zwei fortgeschrittensten der neuen kapitalistischen Länder, in den Vereinigten Staaten und Deutschland. In Deutschland wurde das Anwachsen der Konzentration in diesem Industriezweig besonders stark durch die Krise vom Jahre 1900 beeinflusst. Die Banken, die damals schon fest genug mit der Industrie verwachsen waren, beschleunigten und vertieften während dieser Krise im höchsten Grade den Untergang verhältnismässig kleiner Unternehmungen und ihre Aufsaugung durch grosse. „Indem sie“ (die Banken), schreibt Jeidels, „gerade von den kapitalbedürftigsten Unternehmungen ihre Hand zurückziehen, befördern sie erst eine schwindelhafte Hausse, dann den rettungslosen Ruin der Gesellschaften, die nicht dauernd eng mit ihnen liiert sind.“(71)

Die Folge davon war, dass nach 1900 die Konzentration mit Riesenschritten vorwärtsging. Vor 1900 gab es in der Elektroindustrie sieben oder acht “ Gruppen“, wobei jede aus mehreren Gesellschaften (im ganzen waren es 28) bestand, und hinter jeder standen 2-11 Banken. Um 1908-192 verschmolzen alle diese Gruppen zu zwei oder zu einer einzigen. Dieser Prozess ging folgendermassen vor sich:

Gruppen der Elektroindustrie

Felten & Guilleaume Lahmeyer Union AEG Siemens & Halske Schuckert & Co. Bergmann Kummer
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—————————-
——–
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——————————–
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1900 zusammen-
gebrochen
Vor 1900: Felten & Lahmeyer AEG Siemens & Halske-Schuckert Bergmann
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AEG Siemens & Halske-Schuckert
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Um 1912 (Enge „Kooperation“ seit 1908)

 

Die berühmte AEG (Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft), die auf diese Weise entstanden ist, beherrscht (durch das „Beteiligungssystem“) 175-200 Gesellschaften und verfügt über ein Kapital von ungefähr 1,5 Milliarden Mark. Sie hat allein 34 direkte Auslandsvertretungen, davon 12 Aktiengesellschaften in mehr als 10 Staaten. Schon 1904 schätzte man die Kapitalanlagen der deutschen Elektroindustrie im Ausland auf 233 Millionen Mark, davon 62 Mill. in Russland. Es erübrigt sich zu sagen, dass die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft ein riesiges „kombiniertes“ Unternehmen darstellt – allein die Zahl ihrer Fabrikationsgesellschaften beträgt 16 -, das die verschiedenartigsten Erzeugnisse, von Kabeln und Isolatoren bis zu Automobilen und Flugmaschinen, herstellt.

Die Konzentration in Europa war aber auch ein Bestandteil des Konzentrationsprozesses in Amerika. Das ging folgendermassen vor sich:

General Electric Co.
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Amerika Thomson-Housten Co. gründet für Europa die Firma Edison Co. gründet für Europa die Firma: „Französische Edison Co.“; diese übergibt die Patente der deutschen Firma AEG
Deutschland Union Elektrizitäts-Gesellschaft
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Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG)

Auf diese Weise entstanden zwei Elektro“mächte“. Andere Elektromächte, wenigstens von diesen beiden völlig unabhängige, gibt es auf der Erde nicht“, schreibt Heinig in seinem Aufsatz „Der Weg des Elektrotrusts“. Über den Umsatz und den Umfang der Betriebe beider „Trusts“ geben folgende Zahlen eine ungefähre, bei weitem nicht erschöpfende Vorstellung:

Warenumsatz (Mill. Mark) Zahl der Angestellten Nettogewinn
(Mill. Mark)
Amerika: General Electric Co. (GEG) 1907: 252 28.000 35,4
1910: 298 32.000 45,6
Deutschland: Allgem. Elektr.-Ges. (AEG) 1907: 216 30.700 14,5
1911: 362 60.800 21,7

Und nun schliessen 1907 der amerikanische und der deutsche Trust einen Vertrag über die Aufteilung der Welt. Die Konkurrenz wird ausgeschaltet. Die GEG „erhält“ die Vereinigten Staaten und Kanada, der AEG werden Deutschland, Österreich, Russland, Holland, Dänemark, die Schweiz, die Türkei und der Balkan „zugeteilt“. Besondere – natürlich geheime – Verträge werden über die „Tochtergesellschaften“ abgeschlossen, die in neue Industriezweige und in „neue“, formell noch unverteilte Länder eindringen. Erfindungen und Erfahrungen werden gegenseitig ausgetauscht.(72)

Man versteht ohne weiteres, wie schwierig die Konkurrenz gegen diesen faktisch einheitlichen, die gesamte Welt umspannenden Trust ist, der über ein Kapital von mehreren Milliarden verfügt und seine „Niederlassungen“, Vertretungen, Agenturen, Verbindungen an allen Ecken und Enden der Welt hat. Aber eine Aufteilung der Welt unter zwei mächtige Trusts schliesst natürlich eine Neuaufteilung nicht aus, sobald das Kräfteverhältnis – infolge der ungleichmässigen Entwicklung, von Kriegen, Zusammenbrüchen usw. – sich ändert.

Ein lehrreiches Beispiel dafür, wie eine solche Neuaufteilung versucht wird und wie um sie gekämpft wird, bietet die Petroleumindustrie.

„Der Petroleummarkt der Welt,“ schrieb Jeidels 1905, „ist im Wesentlichen auch noch heute unter zwei grosse Finanzgruppen aufgeteilt: die amerikanische ‚Standard Oil Co.‘ Rockefellers und die Beherrscher des russischen Baku-Öls, Rothschild und Nobel. Beide Gruppen stehen in enger Verbindung, sind aber in ihrer Monopolstellung seit einer Reihe von Jahren von fünf Feinden bedroht“ (73): 1. dem Versiegen der Petroleumquellen in Amerika; 2. der Konkurrenz der Firma Mantaschow in Baku; 3. den Petroleumvorkommen in Österreich und 4. in Rumänien; 5. den überseeischen Ölquellen, vornehmlich in den holländischen Kolonien (die steinreichen Firmen von Samuel und Shell, die auch mit dem englischen Kapital liiert sind). Die letzten drei Gruppen von Unternehmungen sind mit deutschen Grossbanken, mit der grössten, der „Deutschen Bank“, an der Spitze, liiert. Diese Banken haben selbständig und planmässig die Petroleumindustrie gefördert, so z.B. in Rumänien, um einen „eigenen“ Stützpunkt zu haben. In der rumänischen Petroleumindustrie schätzte man 1907 das fremde Kapital auf 185 Mill. Francs, wovon auf Deutschland 74 Mill. entfielen. (74)

Es begann ein Kampf, der denn auch in der ökonomischen Literatur Kampf um „die Teilung der Welt“ genannt wird. Einerseits Rockefellers „Petroleumtrust“, der, um alles an sich zu reissen, in Holland selbst eine „Tochtergesellschaft“ gründete und Petroleumquellen in Niederländisch-Indien aufkaufte, umso seinem Hauptfeind, dem holländisch-englischen „Shell“-Trust, einen Schlag zu versetzen. Anderseits suchten die „Deutsche Bank“ und andere Berliner Banken Rumänien „für sich zu behaupten“ und es mit Russland gegen Rockefeller zu vereinigen. Dieser verfügte über ein unvergleichlich grösseres Kapital und einen ausgezeichnet organisierten Apparat für den Transport und die Zustellung des Petroleums an die Verbraucher. Der Kampf musste mit der völligen Niederlage der „Deutschen Bank“ enden, was 1907 auch der Fall war. Es blieb ihr nur die Wahl: entweder ihre „Petroleuminteressen“ mit Millionenverlust zu liquidieren oder sich zu unterwerfen. Sie wählte das letztere und schloss einen für die „Deutsche Bank“ sehr ungünstigen Vertrag mit der Standard Oil. Auf Grund dieses Vertrags verpflichtete sich die „Deutsche Bank“, „nichts zum Nachteil der amerikanischen Interessen zu unternehmen“; dabei war jedoch vorgesehen, dass der Vertrag seine Gültigkeit verlieren solle, falls Deutschland durch Gesetz ein staatliches Petroleummonopol einführen werde.

Nun beginnt die “ Petroleum-Komödie“. Einer der Finanzkönige Deutschlands, von Gwinner, Direktor der „Deutschen Bank“, lässt durch seinen Privatsekretär Stauss für ein Petroleummonopol agitieren. Der ganze Riesenapparat der Berliner Grossbank, alle weitreichenden „Verbindungen“ werden in Bewegung gesetzt, die Presse überschreit sich in „patriotischer“ Empörung gegen „das Joch“ des amerikanischen Trusts, und der Reichstag nimmt am 15. März 1911 beinahe einstimmig eine Resolution an, in der die Regierung aufgefordert wird, einen Gesetzentwurf über ein Petroleummonopol auszuarbeiten. Die Regierung griff diesen „populären“ Gedanken auf, und die „Deutsche Bank“, die ihren amerikanischen Kontrahenten übers Ohr hauen und ihren Geschäften durch das Staatsmonopol nachhelfen wollte, schien gewonnenes Spiel zu haben. Die deutschen Petroleumkönige schwelgten schon im Vorgenuss der Riesenprofite, die den Profiten der russischen Zuckerfabrikanten nicht nachstehen würden … Aber da gerieten sich erstens die deutschen Grossbanken in die Haare wegen der Teilung der Beute, und die “ Disconto-Gesellschaft“ enthüllte die eigennützigen Interessen der „Deutschen Bank“; zweitens bekam die Regierung Angst vor dem Kampf gegen Rockefeller, denn es war recht zweifelhaft, ob Deutschland ohne ihn Petroleum bekommen würde (Rumäniens Ausbeute war gering), und drittens stand die Bewilligung des Milliardenetats von 1913 für die Kriegsvorbereitung Deutschlands bevor. Das Monopolprojekt wurde vertagt. Rockefellers “ Petroleumtrust“ ging einstweilen als Sieger aus dem Kampf hervor.

Die Berliner Zeitschrift „Die Bank“ schrieb aus diesem Anlass, dass Deutschland den „Petroleumtrust“ nur durch ein Strommonopol und Umsetzung der Wasserkräfte in billige Elektrizität bekämpfen könne. Aber, fügte der Verfasser hinzu, „das Strommonopol wird in dem Momente kommen, in dem die Produzenten es brauchen werden; nämlich dann, wenn der nächste grosse Krach in der Elektrizitätsindustrie vor der Tür stehen wird, wenn die gewaltigen, teuren Stromwerke, die von den Privatkonzernen der Elektrizitätsindustrie jetzt allenthalben gebaut werden und für die ihnen Staaten, Kommunen und andere Verbände schon jetzt partielle Monopole gewähren, nicht mehr rentabel zu arbeiten in der Lage sind. Dann wird man mit den Wasserkräften herausrücken müssen; aber man wird sie nicht von Staats wegen in billige Elektrizität umsetzen können, sondern man wird sie wieder einem ’staatlich kontrollierten Privatmonopol‘ überantworten müssen, weil die gewaltigen Abfindungen und Entschädigungen, die man der Privatindustrie … zahlen müsste, die Grundrente eines … Strommonopols zu stark belasten würden. So war es beim Kalimonopol, so ist es beim Petroleummonopol, so wird es beim Strommonopol sein. Mögen doch unsere Staatssozialisten, die sich durch ein schönes Prinzip blenden lassen, endlich einsehen, dass in Deutschland Monopole nie den Zweck und den Erfolg gehabt haben, dem Konsum zu nützen oder auch nur dem Staat Anteil an dem Unternehmergewinn zu gewähren, sondern immer nur dazu gedient haben, verfahrene Privatindustrien mit Staatshilfe zu sanieren.“(75)

Zu solchen wertvollen Geständnissen sehen sich bürgerliche deutsche Ökonomen genötigt. Wir sehen hier anschaulich, wie sich in der Epoche des Finanzkapitals private und staatliche Monopole miteinander verflechten und die einen wie die anderen in Wirklichkeit bloss einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes zwischen den grössten Monopolisten um die Teilung der Welt sind.

Auch in der Handelsschifffahrt hat das riesige Anwachsen der Konzentration zur Aufteilung der Welt geführt. In Deutschland entstanden zwei riesige Gesellschaften: die “ Hamburg-Amerika-Linie“ und der „Norddeutsche Lloyd“ mit einem Kapital von je 200 Mill. Mark (in Aktien und Obligationen) und Dampfern im Wert von 185-189 Mill. Mark. Anderseits bildete sich am 1. Januar 1903 in Amerika der sogenannte Morgan-Trust, die „Internationale Gesellschaft für Seehandel“, die neun amerikanischen und englischen Schifffahrtsgesellschaften vereinigt und über ein Kapital von 120 Mill. Dollar (480 Mill. Mark) verfügt. Bereits 1903 schlossen die deutschen Kolosse mit diesem amerikanisch-englischen Trust einen Vertrag über die Aufteilung der Welt in Verbindung mit der Verteilung des Profits. Die deutschen Gesellschaften verzichteten auf die Konkurrenz im englisch-amerikanischen Frachtgeschäft. Es wurde genau festgelegt, wem welche Häfen „überlassen“ werden, ein gemeinsamer Überwachungsausschuss wurde geschaffen usw. Der Vertrag wurde auf 20 Jahre geschlossen mit der Klausel, dass er im Kriegsfall ausser Kraft tritt. (76)

Höchst lehrreich ist auch die Entstehungsgeschichte des internationalen Schienenkartells. Zum erstenmal unternahmen die englischen, belgischen und deutschen Schienenwerke bereits 1884, während einer starken industriellen Depression den Versuch, ein solches Kartell zu bilden. Man einigte sich, auf dem Binnenmarkt der vertragschliessenden Länder einander keine Konkurrenz zu machen und die Aussenmärkte nach folgendem Schlüssel zu verteilen: England 66%, Deutschland 27% und Belgien 7%. Indien blieb restlos England vorbehalten. Gegen eine englische Firma, die ausserhalb der Vereinbarung blieb, wurde ein gemeinsamer Kampf geführt, dessen Kosten durch einen bestimmten Prozentsatz von den gesamten Verkäufen gedeckt wurden. Das Kartell zerfiel aber 1886, als zwei englische Firmen aus ihm austraten. Es ist bezeichnend, dass es während der darauffolgenden Perioden des industriellen Aufschwungs nicht gelang, eine Konvention zustande zu bringen.

Anfang 1904 wurde das deutsche Stahlsyndikat gegründet. Im November 1904 wurde das internationale Schienenkartell erneuert nach dem Schlüssel: England 53,5%. Deutschland 28,83%, Belgien 17,67%. Darauf schloss sich Frankreich an mit 4,8%, 5,8% und 6,4% für das erste, zweite und dritte Jahr, und zwar über 100% hinaus, d.h. bei einer Gesamtsumme von 104,8% usw. Im Jahre 1905 trat der Stahltrust der Vereinigten Staaten („United States Steel Corporation“) bei, später auch Österreich und Spanien. „Für den Augenblick“, schrieb Vogelstein 1910, „ist die Teilung der Erde vollendet, und die grossen Konsumenten, vor allem die Staatsbahnen, können jetzt, da die Welt hingegeben ist, ohne dass ihre Interessen gewahrt wurden, wie der Dichter im Himmel des Zeus wohnen.“(77)

Erwähnt sei ferner das internationale Zinksyndikat, das 1909 gegründet wurde und den Produktionsumfang zwischen fünf Gruppen von Hütten genau verteilte, nämlich zwischen den deutschen, belgischen, französischen, spanischen und englischen; ferner der internationale Pulvertrust, diese, nach Liefmanns Worten, „ganz moderne enge Verbindung aller Sprengstoff herstellenden deutschen Unternehmungen, die alsdann mit den ähnlich organisierten französischen und amerikanischen Sprengstofffabriken sozusagen die ganze Welt unter sich verteilten“(78).

Im Ganzen zählte Liefmann für das Jahr 1897 an die 40 internationale Kartelle, an denen Deutschland teilnahm, und um 1910 schon etwa 100.

Manche bürgerlichen Schriftsteller (denen sich jetzt auch K. Kautsky zugesellt hat, der seiner marxistischen Einstellung, z.B. von 1909, völlig untreu geworden ist) gaben der Meinung Ausdruck, dass die internationalen Kartelle, als eine der am klarsten ausgeprägten Erscheinungsformen der Internationalisierung des Kapitals, die Erhaltung des Friedens zwischen den Völkern im Kapitalismus erhoffen lassen. Diese Ansicht ist theoretisch völlig unsinnig und praktisch ein Sophismus, eine unehrliche Methode, den schlimmsten Opportunismus zu verteidigen. Die internationalen Kartelle zeigen, bis zu welchem Grade die kapitalistischen Monopole jetzt angewachsen sind und worum der Kampf zwischen den Kapitalistenverbänden geht. Dieser letzte Umstand ist der wichtigste; nur er allein macht uns den historisch-ökonomischen Sinn des Geschehens klar, denn die Form des Kampfes kann wechseln und wechselt beständig aus verschiedenen, verhältnismässig untergeordneten und zeitweiligen Gründen, aber das Wesen des Kampfes, sein Klasseninhaltkann sich durchaus nicht ändern, solange es Klassen gibt. Selbstverständlich liegt es im Interesse z.B. der deutschen Bourgeoisie, auf deren Seite dem Wesen der Sache nach Kautsky in seinen theoretischen Darlegungen übergegangen ist (wovon noch die Rede sein wird), den Inhalt des heutigen ökonomischen Kampfes (Teilung der Welt) zu vertuschen und bald diese, bald jene Form des Kampfes hervorzukehren. Denselben Fehler begeht Kautsky. Und es handelt sieh natürlich nicht um die deutsche, sondern um die internationale Bourgeoisie. Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen; dabei wird die Teilung „nach dem Kapital“, „nach der Macht“ vorgenommen – eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben. Die Macht aber wechselt mit der ökonomischen und politischen Entwicklung; um zu begreifen, was vor sich geht, muss man wissen, welche Fragen durch Machtverschiebungen entschieden werden; ob diese Verschiebungen nun „rein“ ökonomischer Natur oder ausserökonomischer (z.B. militärischer) Art sind, ist eine nebensächliche Frage, die an den grundlegenden Anschauungen über die jüngste Epoche des Kapitalismus nichts zu ändern vermag. Die Frage nach dem Inhalt des Kampfes und der Vereinbarungen zwischen den Kapitalistenverbänden durch die Frage nach der Form des Kampfes und der Vereinbarungen (heute friedlich, morgen nicht friedlich, übermorgen wieder nicht friedlich) ersetzen heisst zum Sophisten herabsinken.

Die Epoche des jüngsten Kapitalismus zeigt uns, dass sich unter den Kapitalistenverbänden bestimmte Beziehungen herausbilden auf dem Boden der ökonomischen Aufteilung der Welt, dass sich aber daneben und im Zusammenhang damit zwischen den politischen Verbänden, den Staaten, bestimmte Beziehungen herausbilden auf dem Boden der territorialen Aufteilung der Welt, des Kampfes um die Kolonien, „des Kampfes um das Wirtschaftsgebiet“

 

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(71) Jeidels, a.a.O., S. 232.

(72) Riesser, a.a.O., Diouritch, a.a.O., S. 233. Kurt Heinig, a.a.O.

(73) Jeidels, S. 193.

(74) Diouritch, S. 245/246.

(75) „Die Bank“, 1912, 2, 629, 1036; 1913, 1, 388.

(76) Riesser, a.a.O., S. 125.

(77) Vogelstein, „Organisationsformen“, S. 100.

(78) Liefmann, „Kartelle und Trusts“, 2. A.. S. 161.

 

 

VI. Die Aufteilung der Welt unter die Grossmächte

In seinem Werk „Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien“ gibt der Geograph A. Supan (79) die folgende kurze Zusammenfassung dieser Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts:

Vom Hundert der Fläche gehörten den europäischen Kolonialmächten
(die Vereinigten Staaten eingerechnet):
1876 1900 Zunahme
In Afrika 10,8% 90,4% + 79,6%
In Polynesien 56,8% 98,9% + 42,1%
In Asien 51,5% 56,6% + 5,1%
In Australien 100,0% 100,0%
In Amerika 27,5% 27,2% – 0,3%

„Das Charakteristische dieser Periode“, folgert Supan, „ist also die Aufteilung Afrikas und Polynesiens.“ Da es in Asien und Amerika keine unbesetzten Länder gibt, d.h. solche, die keinem Staate gehören, so muss Supans Schlussfolgerung dahingehend erweitert werden, dass das Charakteristische dieser Periode die endgültige Aufteilung der Erde ist, endgültig nicht in dem Sinne, dass eine Neuaufteilung unmöglich wäre – im Gegenteil, Neuaufteilungen sind möglich und unvermeidlich -, sondern in dem Sinne, dass die Kolonialpolitik der kapitalistischen Länder die Besitzergreifung unbesetzter Länder auf unserem Planeten beendet hat. Die Welt hat sich zum erstenmal als bereits aufgeteilt erwiesen, so dass in der Folge nur noch Neuaufteilungen in Frage kommen, d.h. der Übergang von einem „Besitzer“ auf den anderen, nicht aber die Besitzergreifung herrenlosen Landes.

Wir leben folglich in einer eigenartigen Epoche der kolonialen Weltpolitik, die aufs engste verknüpft ist mit „der jüngsten Entwicklungsstufe des Kapitalismus“, mit dem Finanzkapital. Es ist daher notwendig, vor allem eingehender bei dem Tatsachenmaterial zu verweilen, um sowohl den Unterschied dieser Epoche von den vorhergegangenen als auch die gegenwärtige Sachlage so genau wie möglich zu klären. Zunächst tauchen hier zwei konkrete Fragen auf: ob eine Verstärkung der Kolonialpolitik, eine Verschärfung des Kampfes um die Kolonien gerade in der Epoche des Finanzkapitals zu beobachten ist und wie gerade in dieser Hinsicht die Welt augenblicklich verteilt ist.

Der amerikanische Schriftsteller Morris versucht in seinem Buch über die Geschichte der Kolonisation (80) die Daten über die Grösse des englischen, französischen und deutschen Kolonialbesitzes für verschiedene Zeitabschnitte des 19. Jahrhunderts zusammenzufassen.

Nachstehend gekürzt seine Berechnungen

Grösse des Kolonialbesitzes
England Frankreich Deutschland
Jahre Fläche (Mill. Quadrat-
meilen)
Bevölkerung (Mill.) Fläche (Mill. Quadrat-
meilen)
Bevölkerung (Mill.) Fläche (Mill. Quadrat-
meilen)
Bevölkerung (Mill.)
1815-1830 7 126,4 0,02 0,5
1860 2,5 145,1 0,2 3,4
1880 7,7 207,9 0,7 7,5
1899 9,3 309,0 3,7 56,4 1,0 14,7

Die kolonialen Eroberungen Englands nehmen am gewaltigsten in den Jahren 1860-1880 zu und sind auch in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sehr beträchtlich. Die kolonialen Eroberungen Frankreichs und Deutschlands fallen hauptsächlich gerade in diese zwei Jahrzehnte. Wir haben bereits gesehen, dass die Periode der höchsten Entwicklung des vormonopolistischen Kapitalismus, des Kapitalismus mit vorwiegend freier Konkurrenz, in die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts fällt. Jetzt sehen wir, dass gerade nach dieser Periode ein ungeheurer „Aufschwung“ der kolonialen Eroberungen beginnt und der Kampf um die territoriale Aufteilung der Welt sich im höchsten Grade verschärft. Unzweifelhaft ist daher die Tatsache, dass der Übergang des Kapitalismus zum Stadium des Monopolkapitalismus, zum Finanzkapital, mit einer Verschärfung des Kampfes um die Aufteilung der Welt verknüpft ist.

In seinem Werk über den Imperialismus hebt Hobson die Periode von 1884-1900 als Periode verstärkter „Expansion“ (Erweiterung des Territorialbesitzes) der wichtigsten europäischen Staaten hervor. Seiner Berechnung nach erwarb England während dieser Zeit 3,7 Millionen Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 57 Mill.; Frankreich 3,6 Mill. Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 361/2 Mill.; Deutschland 1 Mill. Quadratmeilen mit 44,7 Mill.; Belgien 900.000 Quadratmeilen mit 30 Mill. und Portugal 800.000 Quadratmeilen mit 9 Mill. Einwohnern. Die Jagd aller kapitalistischen Staaten nach Kolonien gegen Ende des 19. Jahrhunderts und besonders seit den achtziger Jahren ist eine allbekannte Tatsache in der Geschichte der Diplomatie und der Aussenpolitik.

Zur Zeit der höchsten Blüte der freien Konkurrenz in England, in den Jahren 1840-1860, waren die führenden bürgerlichen Politiker Englands Gegner der Kolonialpolitik und hielten die Befreiung der Kolonien und ihre völlige Lostrennung von England für unvermeidlich und nützlich. M. Beer weist in seinem 1898 erschienenen Artikel über „den modernen englischen Imperialismus“ (81) darauf hin, dass 1852 ein solcher englischer Staatsmann wie Disraeli, der im allgemeinen durchaus imperialistisch eingestellt war, geäussert hat: „Die Kolonien sind Mühlsteine um unseren Hals.“ Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber waren in England die Helden des Tages Cecil Rhodes und Joseph Chamberlain, die offen den Imperialismus predigten und mit dem grössten Zynismus eine imperialistische Politik trieben!

Nicht uninteressant ist es, dass der Zusammenhang zwischen den sozusagen rein ökonomischen und den sozial-politischen Wurzeln des modernen Imperialismus schon damals für diese führenden Politiker der englischen Bourgeoisie klar war. Chamberlain predigte den Imperialismus als die „wahre, weise und sparsame Politik“ und verwies besonders auf die Konkurrenz Deutschlands, Amerikas und Belgiens, der England jetzt auf dem Weltmarkt begegnet. Die Rettung liegt im Monopol – sagten die Kapitalisten und gründeten Kartelle, Syndikate und Trusts; die Rettung liegt im Monopol – sekundierten die politischen Führer der Bourgeoisie und beeilten sich, die noch unverteilten Gebiete der Welt an sich zu reissen. Cecil Rhodes hat, wie sein intimer Freund, der Journalist Stead, erzählt, 1895 über seine imperialistischen Ideen gesagt: „Ich war gestern im Ostende von London (Arbeiterviertel) und besuchte eine Arbeitslosenversammlung. Und als ich nach den dort gehörten wilden Reden, die nur ein Schrei nach Brot waren, nach Hause ging, da war ich von der Wichtigkeit des Imperialismus mehr denn je überzeugt … Meine grosse Idee ist die Lösung des sozialen Problems, d.h., um die vierzig Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschliessen, um den Überschuss an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen. Das Empire, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“(82)

So sprach im Jahre 1895 Cecil Rhodes, Millionär, Finanzkönig und Hauptschuldiger am Burenkrieg. Seine Verteidigung des Imperialismus ist nur grob und zynisch, dem Wesen der Sache nach aber unterscheidet sie sich in nichts von der „Theorie“ der Herren Maslow, Südekum, Potressow und David sowie des Begründers des russischen Marxismus usw. usf. Cecil Rhodes war nur ein etwas ehrlicherer Sozialchauvinist.

Um ein möglichst genaues Bild von der territorialen Aufteilung der Welt und den in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten erfolgten Veränderungen zu vermitteln, wollen wir die Daten benutzen, die Supan in dem oben zitierten Werk über den Kolonialbesitz aller Staaten der Welt zusammengefasst hat. Supan nimmt die Jahre 1876 und 1900; wir wollen das Jahr 1876 nehmen, einen gut gewählten Zeitpunkt, denn gerade zu dieser Zeit kann man die Entwicklung des westeuropäischen Kapitalismus in seinem vormonopolistischen Stadium im Grossen und Ganzen als beendet betrachten, ferner das Jahr 1914, wobei wir Supans Zahlen durch neuere Daten aus Hübners „Geographisch-statistischen Tabellen“ ersetzen. Supan befasst sich nur mit den Kolonien; wir halten es für nützlich, zur Vervollständigung des Bildes über die Aufteilung der Welt kurz auch die Angaben hinzuzufügen über die nichtkolonialen Länder sowie über die Halbkolonien, zu denen wir Persien, China und die Türkei zählen: Persien ist schon fast vollständig zur Kolonie geworden, China und die Türkei sind im Begriff, es zu werden.

Wir erhalten folgende Ergebnisse:

Kolonialbesitz der Grossmächte (Mill. Quadratkilometer und Mill. Einwohner)
Kolonien Metropolen Insgesamt
1876 1914 1914 1914
qkm Einw. qkm Einw. qkm Einw. qkm Einw.
England 22,5 251,9 33,5 395,5 0,3 46,5 33,8 440,0
Russland 17,0 15,9 17,4 33,2 5,4 136,2 22,8 169,4
Frankreich 0,9 6,0 10,6 55,5 0,5 39,6 11,1 95,1
Deutschland 2,9 12,3 0,5 64,9 3,4 77,2
Vereinigte Staaten 0,3 9,7 9,4 97,0 9,7 106,7
Japan 0,3 19,2 0,4 53,0 0,7 72,2
6 Grossmächte zusammen 40,4 273,8 65,0 523,4 16,5 437,2 81,5 960,6
Kolonialbesitz der übrigen Staaten (Belgien, Holland usw.) 9,9 45,3
Halbkolonien (Persien, China, Türkei) 14,5 361,2
Die übrigen Länder 28,0 289,9
Der ganze Erdball 133,9 1.657,0

Wir sehen hier anschaulich, in welchem Masse die Teilung der Welt um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts „beendet“ war. Der Kolonialbesitz hat nach 1876 ungeheuer zugenommen: Er wuchs bei den sechs Grossmächten von 40 auf 65 Millionen Quadratkilometer, auf mehr als das Anderthalbfache; der Zuwachs beträgt 25 Mill. Quadratkilometer, anderthalbmal soviel wie die Bodenfläche der Metropolen (16,5 Mill.). Drei Mächte hatten 1876 überhaupt keine und die vierte, Frankreich, hatte fast keine Kolonien. Bis zum Jahre 1914 haben diese vier Staaten Kolonien mit einer Fläche von 14,1 Mill. Quadratkilometern erworben, d.h. ungefähr das Anderthalbfache der Gesamtfläche Europas, mit einer Bevölkerung von fast 100 Millionen Menschen. Die Erweiterung des Kolonialbesitzes geht höchst ungleichmässig vor sich. Vergleicht man z.B. Frankreich, Deutschland und Japan, die sich ihrer Bodenfläche und Einwohnerzahl nach nicht allzu sehr voneinander unterscheiden, so stellt sich heraus, dass Frankreich (der Fläche nach) beinahe dreimal so viel Kolonien erworben hat wie Deutschland und Japan zusammengenommen. Das französische Finanzkapital war aber zu Beginn dieser Periode vielleicht ebenfalls um ein Mehrfaches grösser als das Deutschlands und Japans zusammengenommen. Auf die Grösse des Kolonialbesitzes haben ausser den rein ökonomischen Bedingungen und auf ihrer Basis auch die geographischen und sonstigen Verhältnisse Einfluss. Welch starke Nivellierung der Welt, welch grosser Ausgleich der Wirtschafts- und Lebensbedingungen in den verschiedenen Ländern unter dem Druck der Grossindustrie, des Austausches und des Finanzkapitals in den letzten Jahrzehnten auch vor sich gegangen sein mag, ein beträchtlicher Unterschied bleibt dennoch bestehen, und unter den genannten sechs Ländern finden wir einerseits junge kapitalistische Länder, die ungewöhnlich rasch vorangeschritten sind (Amerika, Deutschland, Japan); anderseits Länder alter kapitalistischer Entwicklung, die sich in der letzten Zeit viel langsamer entwickelt haben als die ersteren (Frankreich und England); und schliesslich ein Land, das in ökonomischer Hinsicht am meisten zurückgeblieben ist (Russland), in dem der moderne kapitalistische Imperialismus sozusagen mit einem besonders dichten Netz vorkapitalistischer Verhältnisse überzogen ist.

Neben den Kolonialbesitz der Grossmächte haben wir die kleinen Kolonien der kleinen Staaten gesetzt, die gewissermassen das nächste Objekt einer möglichen und wahrscheinlichen „Neuaufteilung“ der Kolonien bilden. Diese kleinen Staaten behalten ihre Kolonien zumeist nur dank dem Umstand, dass unter den Grossstaaten Interessengegensätze, Reibungen usw. bestehen, die sie hindern, sich über die Teilung der Beute zu verständigen. Was die „halbkolonialen“ Staaten betrifft, so sind sie ein Beispiel für jene Übergangsformen, die uns auf allen Gebieten der Natur und der Gesellschaft begegnen. Das Finanzkapital ist eine so gewaltige, man darf wohl sagen, entscheidende Macht in allen ökonomischen und in allen internationalen Beziehungen, dass es sich sogar Staaten unterwerfen kann und tatsächlich auch unterwirft, die volle politische Unabhängigkeit geniessen; wir werden sogleich Beispiele dafür sehen. Aber selbstverständlich bietet dem Finanzkapital die meisten „Annehmlichkeiten“ und die grössten Vorteile eine solche Unterwerfung, die mit dem Verlust der politischen Unabhängigkeit der Länder und Völker, die unterworfen werden, verbunden ist. Die halbkolonialen Länder sind in dieser Beziehung als „Mittelding“ typisch. Der Kampf um diese halbabhängigen Länder musste begreiflicherweise besonders akut werden in der Epoche des Finanzkapitals, als die übrige Welt bereits aufgeteilt war.

Kolonialpolitik und Imperialismus hat es auch vor dem jüngsten Stadium des Kapitalismus und sogar vor dem Kapitalismus gegeben. Das auf Sklaverei beruhende Rom trieb Kolonialpolitik und war imperialistisch. Aber „allgemeine“ Betrachtungen über den Imperialismus, die den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen vergessen oder in den Hintergrund schieben, arten unvermeidlich in leere Banalitäten oder Flunkereien aus, wie etwa der Vergleich des „grösseren Rom mit dem grösseren Britannien“(83). Selbst die kapitalistische Kolonialpolitik der früheren Stadien des Kapitalismus unterscheidet sich wesentlich von der Kolonialpolitik des Finanzkapitals.

Die grundlegende Besonderheit des modernen Kapitalismus ist die Herrschaft der Monopolverbände der Grossunternehmer. Derartige Monopole sind am festesten, wenn alle Rohstoffquellen in einer Hand zusammengefasst werden, und wir haben gesehen, wie eifrig die internationalen Kapitalistenverbände bemüht sind, dem Gegner jede Konkurrenz unmöglich zu machen, wie eifrig sie bemüht sind, z.B. Eisenerzlager oder Petroleumquellen usw. aufzukaufen. Einzig und allein der Kolonialbesitz bietet volle Gewähr für den Erfolg der Monopole gegenüber allen Zufälligkeiten im Kampfe mit dem Konkurrenten – bis zu einer solchen Zufälligkeit einschliesslich, dass der Gegner auf den Wunsch verfallen könnte, sich hinter ein Gesetz über ein Staatsmonopol zu verschanzen. Je höher entwickelt der Kapitalismus, je stärker fühlbar der Rohstoffmangel, je schärfer ausgeprägt die Konkurrenz und die Jagd nach Rohstoffquellen in der ganzen Welt sind, desto erbitterter ist der Kampf um die Erwerbung von Kolonien.

„Es kann sogar“, schreibt Schilder, „die manchen vielleicht paradox erscheinende Behauptung gewagt werden, dass das Wachstum der städtisch-industriellen Bevölkerungen in irgendwie absehbarer Zeit weit eher durch nicht genügende Mengen der zur Verfügung stehenden industriellen Rohstoffe als durch irgendeinen Mangel an Nahrungsmitteln aufgehalten werden könnte.“ Es mangelt beispielsweise zusehends an Holz, das immer teurer wird, an Leder, an Rohstoffen für die Textilindustrie. „Als Beispiele für die Bemühungen industrieller Verbände, den Ausgleich zwischen Landwirtschaft und Industrie innerhalb der gesamten Weltwirtschaft durchzuführen, wären zu erwähnen: der seit 1904 bestehende internationale Verband der Baumwollspinner-Vereine in den wichtigsten Industriestaaten, der nach diesem Muster im Jahre 1910 begründete Verband der europäischen Leinenspinner-Vereine.“(84)

Natürlich versuchen bürgerliche Reformer, darunter besonders die Kautskyaner von heute, die Bedeutung derartiger Tatsachen durch den Hinweis abzuschwächen, dass man Rohstoffe ohne die „kostspielige und gefährliche“ Kolonialpolitik auf dem freien Markt erhalten „könne“, dass man das Angebot an Rohstoffen durch „einfache“ Hebung der Landwirtschaft überhaupt gewaltig steigern „könne“. Aber derartige Hinweise verwandeln sich in eine Apologie des Imperialismus, in dessen Beschönigung, denn sie beruhen auf der Ausserachtlassung der wichtigsten Besonderheit des modernen Kapitalismus: der Monopole. Der freie Markt rückt immer mehr in die Vergangenheit, monopolistische Syndikate und Trusts engen ihn von Tag zu Tag mehr ein, die „einfache“ Hebung der Landwirtschaft aber läuft auf eine Hebung der Lage der Massen, auf eine Erhöhung der Löhne und eine Verminderung des Profits hinaus. Wo existieren jedoch, ausser in der Phantasie süsslicher Reformer, Trusts, die fähig wären, sich um die Lage der Massen zu kümmern, anstatt Kolonien zu erobern?

Nicht allein die bereits entdeckten Rohstoffquellen sind für das Finanzkapital von Bedeutung, sondern auch die eventuell noch zu erschliessenden, denn die Technik entwickelt sich in unseren Tagen mit unglaublicher Geschwindigkeit, und Ländereien, die heute unbrauchbar sind, können morgen brauchbar gemacht werden, sobald neue Verfahren gefunden (dazu kann eine Grossbank eine besondere Expedition von Ingenieuren, Agronomen usw. ausrüsten) und grössere Kapitalien aufgewandt werden. Dasselbe lässt sich über Schürfungen von Minerallagerstätten, über neue Methoden der Bearbeitung und Nutzbarmachung dieser oder jener Rohstoffe usw. usf. sagen. Daher das unvermeidliche Streben des Finanzkapitals nach Erweiterung des Wirtschaftsgebietes, ja des Gebietes schlechthin. Wie die Trusts ihr Vermögen auf Grund einer doppelten oder dreifachen Schätzung kapitalisieren, indem sie die in Zukunft „möglichen“ (aber gegenwärtig nicht vorhandenen) Profite und die weiteren Ergebnisse des Monopols in Rechnung stellen, so ist auch das Finanzkapital im allgemeinen bestrebt, möglichst viel Ländereien an sich zu reissen, gleichviel welche, gleichviel wo, gleichviel wie, immer auf mögliche Rohstoffquellen bedacht und von Angst erfüllt, in dem tollen Kampf um die letzten Stücke der unverteilten Welt oder bei der Neuverteilung der bereits verteilten Stücke zu kurz zu kommen.

Die englischen Kapitalisten sind auf jede Art und Weise bemüht, die Baumwollproduktion in ihrer Kolonie Ägypten zu fördern – im Jahre 1904 waren von 2,3 Millionen Hektar Kulturland in Ägypten bereits 0,6 Mill., d.h. mehr als ein Viertel, mit Baumwolle bepflanzt -, die Russen in ihrer Kolonie Turkestan, denn auf diese Weise können sie ihre ausländischen Konkurrenten leichter schlagen, können sie die Rohstoffquellen leichter monopolisieren und einen sparsamer wirtschaftenden und profitableren Textiltrust schaffen mit „kombinierter“ Produktion, mit Konzentration aller Stadien der Baumwollerzeugung und -verarbeitung in einer Hand.

Die Interessen des Kapitalexports drängen ebenfalls zur Eroberung von Kolonien, denn auf dem Kolonialmarkt ist es leichter (und mitunter einzig und allein auch möglich), durch monopolistische Mittel den Konkurrenten auszuschalten, sich Lieferungen zu sichern, entsprechende „Verbindungen“ zu festigen u.a.m.

Der ausserökonomische Überbau, der sich auf der Grundlage des Finanzkapitals erhebt, seine Politik, seine Ideologie steigern den Drang nach kolonialen Eroberungen. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“, sagt Hilferding mit Recht. Und gleichsam in Erweiterung und Ergänzung des oben zitierten Gedankens von Cecil Rhodes schreibt ein bürgerlicher französischer Schriftsteller, dass den ökonomischen Ursachen der modernen Kolonialpolitik soziale hinzugefügt werden müssen: „Infolge der zunehmenden Schwierigkeiten des Lebens, die nicht nur auf den Arbeitermassen, sondern auch auf den Mittelklassen lasten, sieht man, wie sich in allen Ländern der alten Zivilisation ‚Ungeduld, Empörung und Hass ansammeln, die den öffentlichen Frieden bedrohen, wie sich deklassierte Energien, tumultuarische Gewalten anhäufen, die es einzudämmen gilt, um sie für irgendeine grosse Sache ausserhalb des Landes zu gebrauchen, soll nicht eine Explosion im Innern erfolgen‘.“(85)

Spricht man von der Kolonialpolitik in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus, dann muss bemerkt werden, dass das Finanzkapital und die ihm entsprechende internationale Politik, die auf einen Kampf der Grossmächte um die ökonomische und politische Aufteilung der Welt hinausläuft, eine ganze Reibe von Übergangsformen der staatlichen Abhängigkeit schaffen. Typisch für diese Epoche sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern – die Kolonien besitzenden und die Kolonien selber -, sondern auch die verschiedenartigen Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind. Auf eine dieser Formen, die Halbkolonien, haben wir bereits hingewiesen. Ein Musterbeispiel für eine andere Form ist z.B. Argentinien.

„Das südliche Südamerika, insbesondere Argentinien“, schreibt Schulze-Gaevernitz in seinem Werk über den britischen Imperialismus, „findet sich in solcher finanzieller Abhängigkeit von London, dass es fast als englische Handelskolonie zu bezeichnen ist.“(86) Die in Argentinien investierten Kapitalien Englands schätzt Schilder auf Grund des Jahresberichtes des österreichisch-ungarischen Konsuls in Buenos Aires für 1909 auf 83/4 Milliarden Francs. Man kann sich leicht vorstellen, mit wie festen Banden infolgedessen das Finanzkapital Englands – und sein treuer „Freund“, die Diplomatie – mit der Bourgeoisie Argentiniens und den führenden Kreisen seines gesamten wirtschaftlichen und politischen Lebens verknüpft ist.

Eine etwas anders geartete Form finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit, bei politischer Unabhängigkeit, bietet uns Portugal. Portugal ist ein selbständiger, souveräner Staat, aber faktisch steht es seit mehr als 200 Jahren, seit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1704-1714), unter dem Protektorat Englands. England verteidigte Portugal und dessen Kolonialbesitz, um seine eigene Position im Kampfe gegen seine Gegner, Spanien und Frankreich, zu stärken. Dafür erhielt England Handelsprivilegien, bessere Bedingungen beim Warenexport und besonders beim Kapitalexport nach Portugal und seinen Kolonien, die Möglichkeit, die Häfen und Inseln Portugals zu benutzen, seine Kabel usw. usf. (87) Derartige Beziehungen zwischen einzelnen grossen und kleinen Staaten hat es immer gegeben, aber in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus werden sie zum allgemeinen System, bilden sie einen Teil der Gesamtheit der Beziehungen bei der „Aufteilung der Welt“ und verwandeln sich in Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals.

Um die Frage der Aufteilung der Welt abzuschliessen, müssen wir noch folgendes bemerken. Nicht nur die amerikanische Literatur nach dem Spanisch-Amerikanischen und die englische Literatur nach dem Burenkrieg haben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts diese Frage ganz offen und bestimmt aufgeworfen; nicht nur die deutsche Literatur, die dem „britischen Imperialismus“ am „eifersüchtigsten“ nachspürte, hat diese Tatsache systematisch bewertet. Auch in der französischen bürgerlichen Literatur wurde diese Frage ziemlich bestimmt und breit gestellt, soweit dies vom bürgerlichen Standpunkt denkbar ist. Wir verweisen auf den Historiker Driault, der in seinem Buch „Die politischen und sozialen Probleme Ende des 19. Jahrhunderts“ in dem Kapitel „Die Grossmächte und die Aufteilung der Welt“ folgendes schrieb: „In diesen letzten Jahren wurden alle unbesetzten Gebiete des Erdballs, ausser China, von den Mächten Europas und Nordamerikas erobert; es kam zu einigen Konflikten und Einflussverschiebungen, die Vorboten noch furchtbarerer Erschütterungen in der nahen Zukunft sind. Denn man muss sich beeilen: die Nationen, die nicht versorgt sind, riskieren, es niemals zu werden und nicht an der ungeheuren Ausbeutung der Erde teilnehmen zu können, die eine der wesentlichsten Tatsachen des kommenden“ (d.h. des 20.) „Jahrhunderts sein wird. Das ist der Grund, weshalb Europa und Amerika vor kurzem von einem Fieber der kolonialen Expansion erfasst worden sind, des ‚Imperialismus‘, der den markantesten Charakterzug des Ausgangs des 19. Jahrhunderts bildet.“ Und der Verfasser fügte hinzu: „Bei dieser Aufteilung der Welt, bei dieser wahnwitzigen Jagd nach den Schätzen und Grossmärkten der Erde steht die relative Bedeutung der in diesem (dem 19.) Jahrhundert gegründeten Reiche in gar keinem Verhältnis zu der Stellung, die die Nationen, von denen sie gegründet wurden, in Europa einnehmen. Die Mächte, die in Europa dominieren und über sein Schicksal entscheiden, dominieren nicht in gleicher Weise in der Welt. Und da die koloniale Grösse, die Hoffnung auf noch ungezählte Reichtümer, offenbar auf die relative Bedeutung der europäischen Staaten zurückwirken wird, hat die Kolonialfrage, der ‚Imperialismus‘, wenn man will, die politischen Verhältnisse in Europa selbst schon verändert und wird sie immer mehr verändern.“(88)

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(79) A. Supan, „Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien“, 1906, S. 254.

(80) Henry C. Morris, „The History of Colonization“, N. Y. 1900, Bd. II, S. 88; I, 419; II. 304.

(81) „Die Neue Zeit“, XVI, 1, 1898, S. 302.

(82) Ebenda, S. 304.

(83) C. P. Lucas, „Greater Rome and Greater Britain“, Oxf. 1912 oder Earl of Cromer, „Ancient and Modern Imperialism“, L. 1910.

(84) Schilder, a.a.O., S. 38-42.

(85) Wahl, „La France aux colonies“, zitiert bei Henri Russier, „Le partage de l’Océanie“, P. 1905, S. 165.

(86) Schulze-Gaevernitz, „Britischer Imperialismus und englischer Freihandel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts“, Lpz. 1906, S. 318. Dasselbe sagt Sartorius v. Waltershausen, „Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande“, Berlin 1907, S. 46.

(87) Schilder, a.a.O., I, S. 160/161.

(88) J. E. Driault, „Les problèmes politiques et sociaux“, P. 1907, S. 299.

 

 

VII. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus

Wir müssen nun versuchen, das oben über den Imperialismus Gesagte zusammenzufassen und gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen. Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Grossproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die grossen Betriebe durch noch grössere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, dass daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.

Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müsste man sagen, dass der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Grossbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.

Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen Deshalb muss man – ohne zu vergessen, dass alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Grossmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die grössten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.

Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muss, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich hier bemerkt, dass der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefasst, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt. Um dem Leser eine möglichst gut fundierte Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viele Äusserungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unbestreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen. Zu demselben Zweck haben wir ausführliche statistische Daten angeführt, die zeigen, bis zu welchem Grad das Bankkapital angewachsen ist usw. und worin eben das Umschlagen der Quantität in Qualität, das Umschlagen des hochentwickelten Kapitalismus in den Imperialismus seinen Ausdruck gefunden hat. Es erübrigt sich natürlich zu sagen, dass alle Grenzen in Natur und Gesellschaft bedingt und beweglich sind, dass es sinnlos wäre, z.B. über die Frage zu streiten, seit welchem Jahr oder Jahrzehnt der Imperialismus als „endgültig“ herausgebildet gelten kann.

Aber streiten muss man über die Definition des Imperialismus vor allem mit dem führenden marxistischen Theoretiker der Epoche der sogenannten zweiten Internationale, d.h. des Vierteljahrhunderts von 1889-1914, mit K. Kautsky. Gegen die grundlegenden Ideen, die in der von uns gegebenen Definition des Imperialismus zum Ausdruck kommen, wandte sich Kautsky ganz entschieden im Jahre 1915 und sogar schon im September 1914 mit der Erklärung, dass unter Imperialismus nicht eine Phase oder Stufe der Wirtschaft, sondern eine Politik, nämlich eine bestimmte, vom Finanzkapital „bevorzugte“ Politik zu verstehen sei, dass der Imperialismus nicht mit dem „modernen Kapitalismus“ „gleichgesetzt“ werden könne, dass, wenn man unter Imperialismus „alle Erscheinungen des modernen Kapitalismus“ – Kartelle, Schutzzölle, Finanzherrschaft, Kolonialpolitik – verstehe, die Frage, ob der Imperialismus eine notwendige Folgeerscheinung des Kapitalismus sei, auf die „platteste Tautologie“ hinauslaufe, denn dann „ist der Imperialismus natürlich eine Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus“ usw. Kautskys Gedankengang lässt sich am genauesten darstellen, wenn wir seine Definition des Imperialismus zitieren, die sich direkt gegen den Kern der von uns entwickelten Ideen richtet (denn die Einwände aus dem Lager der deutschen Marxisten, die jahrelang ähnliche Ideen propagierten, sind Kautsky längst als Einwände einer bestimmten Strömung innerhalb des Marxismus bekannt).

Kautskys Definition lautet:

„Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer grösseres agrarisches“ (hervorgehoben von Kautsky) „Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.“(89)

Diese Definition taugt rein gar nichts, denn sie ist einseitig, d.h., sie greift willkürlich einzig und allein die nationale Frage heraus (die zwar sowohl an sich wie auch in ihrem Verhältnis zum Imperialismus von höchster Wichtigkeit ist), verknüpft diese willkürlich und unrichtig nur mit dem Industriekapital in den Ländern, die andere Nationen annektieren, und rückt ebenso willkürlich und unrichtig die Annexion von Agrargebieten in den Vordergrund.

Imperialismus ist Drang nach Annexionen – darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion. Uns beschäftigt jedoch hier die ökonomische Seite der Frage, die Kautsky selbst in seine Definition hineingebracht hat. Die Unrichtigkeiten in Kautskys Definition springen in die Augen. Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch. Es ist kein Zufall, dass in Frankreich gerade die besonders rasche Entwicklung des Finanzkapitals bei gleichzeitiger Schwächung des Industriekapitals seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine äusserste Verschärfung der annexionistischen (Kolonial-) Politik hervorgerufen hat. Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Grossmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie (für Deutschland ist Belgien von besonderer Wichtigkeit als Stützpunkt gegen England; für England Bagdad als Stützpunkt gegen Deutschland usw.).

Kautsky beruft sich besonders – und wiederholt – auf die Engländer, die angeblich die rein politische Bedeutung des Begriffs Imperialismus in seinem, Kautskys, Sinne festgelegt hätten. Nehmen wir den Engländer Hobson; wir lesen in seinem 1902 erschienenen Werk „Imperialismus“ folgendes:

„Der neue Imperialismus unterscheidet sich vom alten erstens dadurch, dass er an Stelle der Bestrebungen eines einzigen wachsenden Imperiums die Theorie und Praxis rivalisierender Imperien gesetzt hat, von denen jedes von der gleichen Sucht nach politischer Expansion und kommerziellem Vorteil geleitet wird; zweitens durch die Vorherrschaft der Finanz- bzw. Investitionsinteressen über die Handelsinteressen.“(90)

Wir sehen, dass Kautsky faktisch völlig im Unrecht ist, wenn er sich auf die Engländer im allgemeinen beruft (er könnte sich höchstens auf die vulgären englischen Imperialisten oder direkten Apologeten des Imperialismus berufen). Wir sehen, dass Kautsky, der darauf Anspruch erhebt, nach wie vor den Marxismus zu verteidigen, in Wirklichkeit einen Schritt rückwärts macht im Vergleich zu dem Sozialliberalen Hobson der die beiden „historisch-konkreten“ (Kautskys Definition ist geradezu ein Hohn auf die historische Konkretheit!) Besonderheiten des modernen Imperialismus richtiger beurteilt: 1. die Konkurrenz einiger Imperialismen und 2. das Überwiegen des Finanzmanns über den Kaufmann. Spricht man aber hauptsächlich davon, dass ein Industriestaat ein Agrarland annektiert, so wird damit die überragende Rolle des Kaufmanns hervorgehoben.

Kautskys Definition ist nicht nur unrichtig und unmarxistisch. Sie dient als Begründung für ein ganzes System von Auffassungen, die auf ganzen Linie sowohl mit der marxistischen Theorie als auch mit der marxistischen Praxis brechen, wovon später noch die Rede sein wird. Ganz und gar unernst ist der von Kautsky entfachte Streit um Worte, nämlich ob das jüngste Stadium des Kapitalismus als Imperialismus oder als Stadium des Finanzkapitals anzusprechen sei. Man nenne es, wie man will – darauf kommt es nicht an. Wesentlich ist, dass Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik trennt, indem er von Annexionen als der vom Finanzkapital „bevorzugten“ Politik spricht und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals entgegenstellt. Es kommt so heraus, als ob die Monopole in der Wirtschaft vereinbar wären mit einem nicht monopolistischen, nicht gewalttätigen, nicht annexionistischen Vorgehen in der Politik. Als ob die territoriale Aufteilung der Welt, die gerade in der Epoche des Finanzkapitals beendet wurde und die die Grundlage für die Eigenart der jetzigen Formen des Wettkampfs zwischen den kapitalistischen Grossstaaten bildet, vereinbar wäre mit einer nicht imperialistischen Politik. Das Resultat ist eine Vertuschung. eine Abstumpfung der fundamentalsten Widersprüche des jüngsten Stadiums des Kapitalismus statt einer Enthüllung ihrer Tiefe, das Resultat ist bürgerlicher Reformismus statt Marxismus.

Kautsky polemisiert gegen Cunow, den deutschen Apologeten des Imperialismus und der Annexionen, dessen Gedankengang ebenso plump wie zynisch ist: Der Imperialismus sei der moderne Kapitalismus; die Entwicklung des Kapitalismus sei unvermeidlich und fortschrittlich, folglich sei auch der Imperialismus fortschrittlich, und wir hätten den Imperialismus anzubeten und zu lobpreisen! Das ähnelt ganz dem Zerrbild, das die Volkstümler in den Jahren 1894/1895 den russischen Marxisten entgegenhielten: Wenn die Marxisten den Kapitalismus in Russland für unvermeidlich und fortschrittlich halten, sollten sie eine Schenke aufmachen und sich damit befassen, den Kapitalismus zu züchten. Kautsky erwidert Cunow: Nein, der Imperialismus ist nicht der moderne Kapitalismus, sondern bloss eine der Formen der Politik des modernen Kapitalismus, und wir können und müssen gegen diese Politik kämpfen, gegen den Imperialismus, gegen die Annexionen usw. kämpfen.

Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand durchaus angängig, aber in Wirklichkeit bedeutet er eine feinere, verhülltere (und darum gefährlichere) Propaganda einer Versöhnung mit dem Imperialismus, denn ein „Kampf“ gegen die Politik der Trusts und Banken, der die ökonomischen Grundlagen der Trusts und Banken unangetastet lässt, läuft auf bürgerlichen Reformismus und Pazifismus hinaus, auf harmlose und fromme Wünsche. Sich über die bestehenden Widersprüche hinwegsetzen, die wichtigsten von ihnen vergessen, anstatt die Widersprüche in ihrer ganzen Tiefe aufzudecken – das ist Kautskys Theorie, die mit dem Marxismus nichts gemein hat. Und eine solche „Theorie“ dient natürlich nur dazu, die Idee der Einheit mit den Cunow zu verteidigen

„Vom rein ökonomischen Standpunkt“, schreibt Kautsky, „ist es nicht ausgeschlossen, dass der Kapitalismus noch eine neue Phase erlebt, die Übertragung der Kartellpolitik auf die äussere Politik, eine Phase des Ultraimperialismus“ (91), d.h. des Überimperialismus, der Vereinigung der Imperialismen der ganzen Welt, nicht aber ihres Kampfes, eine Phase der Aufhebung der Kriege unter dem Kapitalismus, eine Phase der „gemeinsamen Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital“(92).

Auf diese „Theorie des Ultraimperialismus“ werden wir noch zurückkommen, um eingehend zu zeigen, bis zu welchem Grad sie entschieden und unwiderruflich mit dem Marxismus bricht. Hier müssen wir uns entsprechend der ganzen Anlage dieser Studie zunächst die genauen ökonomischen Daten zu dieser Frage ansehen. Ist ein “ Ultraimperialismus“ vom „rein ökonomischen Standpunkt“ möglich, oder ist das ein Ultra-Unsinn?

Versteht man unter dem rein ökonomischen Standpunkt eine „reine“ Abstraktion, so läuft alles, was sich dazu sagen lässt, auf die These hinaus: Die Entwicklung bewegt sich in der Richtung zu Monopolen, also zu einem einzigen Weltmonopol, einem einzigen Welttrust. Das ist unzweifelhaft, aber ebenso nichtssagend wie etwa der Hinweis, dass „die Entwicklung sich in der Richtung“ zur Herstellung von Nahrungsmitteln im Laboratorium „bewegt“. In diesem Sinne ist die „Theorie“ des Ultraimperialismus ebensolcher Unsinn, wie es eine „Theorie der Ultralandwirtschaft“ wäre.

Spricht man dagegen von den „rein ökonomischen“ Bedingungen der Epoche des Finanzkapitals als einer historisch-konkreten Epoche, die in den Anfang des 20. Jahrhunderts fällt, so erhalten wir die beste Antwort auf die toten Abstraktionen des „Ultraimperialismus“ (die ausschliesslich dem erzreaktionären Ziel dienen, die Aufmerksamkeit von der Tiefe der vorhandenen Widersprüche abzulenken), wenn wir ihnen die konkrete ökonomische Wirklichkeit der modernen Weltwirtschaft gegenüberstellen. Kautskys leeres Gerede von einem Ultraimperialismus nährt unter anderem den grundfalschen Gedanken, der Wasser auf die Mühle der Apologeten des Imperialismus leitet, dass die Herrschaft des Finanzkapitals die Ungleichmässigkeiten und die Widersprüche innerhalb der Weltwirtschaft abschwäche, während sie in Wirklichkeit diese verstärkt.

  1. Calwer machte in seiner Schrift „Einführung in die Weltwirtschaft“(93) den Versuch, die wichtigsten rein ökonomischen Daten zusammenzutragen, die eine konkrete Vorstellung von den Wechselbeziehungen innerhalb der Weltwirtschaft um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglichen Er teilt die ganze Welt in fünf „wirtschaftliche Hauptgebiete“: 1. das mitteleuropäische (ganz Europa, ausser Russland und England); 2. das britische; 3. das russische; 4. das ostasiatische und 5. das amerikanische, wobei er die Kolonien zu den „Gebieten“ derjenigen Staaten zählt, denen sie gehören, und einige wenige, keinem Gebiet zugeteilte Länder, z.B. Persien, Afghanistan, Arabien in Asien, Marokko und Abessinien in Afrika usw., „unberücksichtigt“ lässt.

Nachstehend in gekürzter Form die von Calwer angeführten ökonomischen Daten über diese Gebiete:

Fläche Bevölke-
rung
Verkehrsmittel Handel Industrie
Wirtschaftliche Hauptgebiete der Welt (Mill. qkm) (Mill.) Eisen-
bahnen (1.000 km)
Han-
delsflot-
te (Mill. Tonnen)
(Einfuhr u. Aus-
fuhr zu-
sammen) (Milliar-
den Mark)
Kohlen-
gewin-
nung (Mill. Tonnen)
Rohei-
senge-
winnung (Mill. Tonnen)
Spindel-
zahl in der Baum-
woll-
industrie (Mill.)
1. Mitteleuropäisches 27,6
(23,6)
388
(146)
204 8 41 251 15 26
2. Britisches 28,9
(28,6)
398
(355)
140 11 25 249 9 51
3. Russisches 22 131 63 1 3 16 3 7
4. Ostasiatisches 12 389 8 1 2 8 0,02 2
5. Amerikanisches 30 148 379 6 14 245 14 19

In Klammern Fläche und Bevölkerung der Kolonien.

Wir sehen hier drei Gebiete mit hochentwickeltem Kapitalismus (starke Entwicklung sowohl des Verkehrswesens wie des Handels und der Industrie): das mitteleuropäische, britische und amerikanische: darunter drei weltbeherrschende Staaten: Deutschland, England und die Vereinigten Staaten. Die imperialistische Konkurrenz und der Kampf unter ihnen werden dadurch ausserordentlich verschärft, dass Deutschland nur über ein ganz kleines Gebiet und wenig Kolonien verfugt; die Bildung „Mitteleuropas“ liegt noch in der Zukunft, und seine Geburt geht in einem erbitterten Kampf vor sich. Einstweilen ist das Kennzeichen von ganz Europa politische Zersplitterung. In dem britischen und dem amerikanischen Gebiet dagegen ist die politische Konzentration sehr gross, aber es besteht ein ungeheures Missverhältnis zwischen den unermesslichen Kolonien des britischen und den geringfügigen des amerikanischen Gebiets. In den Kolonien ist der Kapitalismus indes erst im Entstehen begriffen. Der Kampf um Südamerika gewinnt immer mehr an Schärfe.

In zwei Gebieten ist der Kapitalismus schwach entwickelt, im russischen und im ostasiatischen. Im ersten haben wir es mit einer äusserst geringen, im zweiten mit einer ausserordentlich hohen Bevölkerungsdichte zu tun; im ersten ist die politische Konzentration gross, im zweiten fehlt sie ganz. China hat man erst zu teilen begonnen, und der Kampf um China zwischen Japan, den Vereinigten Staaten usw. verschärft sich immer mehr.

Man stelle dieser Wirklichkeit mit der ungeheuren Mannigfaltigkeit ökonomischer und politischer Bedingungen, mit der äussersten Ungleichmässigkeit im Tempo des Wachstums der verschiedenen Länder usw., mit dem wahnwitzigen Kampf zwischen den imperialistischen Staaten – Kautskys dummes Märchen von einem „friedlichen“ Ultraimperialismus gegenüber. Ist das etwa nicht der reaktionäre Versuch eines erschrockenen Kleinbürgers, sich über die grausame Wirklichkeit hinwegzusetzen? Bieten uns die internationalen Kartelle, die Kautsky Keime des „Ultraimperialismus“ zu sein scheinen (wie man auch die Erzeugung von Tabletten im Laboratorium als einen Keim der Ultralandwirtschaft ansprechen „kann“), etwa nicht ein Beispiel der Aufteilung und Neuaufteilung der Welt, des Übergangs von friedlicher Aufteilung zu nicht friedlicher und umgekehrt? Nimmt das amerikanische und sonstige Finanzkapital, das bisher unter Beteiligung Deutschlands, sagen wir im internationalen Schienenkartell oder in dem internationalen Trust der Handelsschiffahrt, die ganze Welt friedlich aufgeteilt hat, jetzt etwa nicht eine Neuaufteilung der Welt auf Grund neuer Kräfteverhältnisse vor, die sich auf ganz und gar nicht friedlichem Wege verändert haben?

Das Finanzkapital und die Trusts schwächen die Unterschiede im Tempo des Wachstums der verschiedenen Teile der Weltwirtschaft nicht ab, sondern verstärken sie. Sobald sich aber die Kräfteverhältnisse geändert haben, wie können dann unter dem Kapitalismus die Gegensätze anders ausgetragen werden als durch Gewalt? Überaus genaue Angaben über das unterschiedliche Wachstumstempo des Kapitalismus und des Finanzkapitals in der gesamten Weltwirtschaft finden wir in der Eisenbahnstatistik. (94) In den letzten Jahrzehnten der imperialistischen Entwicklung veränderte sich die Länge der Schienenwege wie folgt:

Schienenwege (in 1.000 km)
1890 1913 +
Europa 224 346 + 122
Vereinigte Staaten von Amerika 268 411 + 143
Alle Kolonien 82 } 125 210 } 347 + 128 } + 222
Selbständige und halbselbständige Staaten Asiens und Amerikas 43 137 + 94
Insgesamt 617 1.104

Am raschesten ging somit die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in den Kolonien und den selbständigen (und halbselbständigen) Staaten Asiens und Amerikas vor sich. Bekanntlich schaltet und waltet hier das Finanzkapital der 4-5 grössten kapitalistischen Staaten unumschränkt. Zweihunderttausend Kilometer neuer Schienenwege in den Kolonien und in den anderen Ländern Asiens und Amerikas – das bedeutet mehr als 40 Milliarden Mark neuer Kapitalanlage zu besonders günstigen Bedingungen, mit besonderen Garantien der Einträglichkeit, mit profitablen Aufträgen für die Stahlwerke usw. usf.

Am schnellsten wächst der Kapitalismus in den Kolonien und den überseeischen Ländern. Unter diesen Ländern entstehen neue imperialistische Mächte (Japan). Der Kampf der Weltimperialismen verschärft sich. Es wächst der Tribut, den das Finanzkapital von den besonders einträglichen kolonialen und überseeischen Unternehmungen erhebt. Bei der Teilung dieser „Beute“ fällt ein ausserordentlich grosser Bissen Ländern zu, die nach dem Entwicklungstempo der Produktivkräfte nicht immer an der Spitze stehen. Die Länge der Schienenwege betrug in den grössten Staaten unter Einschluss ihrer Kolonien:

(in 1.000 km)
1890 1913
Vereinigte Staaten 268 413 + 145
Britisches Reich 107 208 + 101
Russland 32 78 + 46
Deutschland 43 68 + 25
Frankreich 41 63 + 22
In den fünf Staaten insgesamt 491 830 + 339

Rund 80% der gesamten Eisenbahnen sind also in den Händen der 5 Grossmächte konzentriert. Aber die Konzentration des Eigentums an diesen Bahnen, die Konzentration des Finanzkapitals ist noch unvergleichlich grösser, denn den englischen und französischen Millionären z.B. gehört ein sehr grosser Teil der Aktien und Obligationen der amerikanischen, russischen und anderen Eisenbahnen.

England hat dank seinen Kolonien „sein“ Eisenbahnnetz um hunderttausend Kilometer, also viermal mehr als Deutschland, vergrössert. Indessen ging bekanntlich während dieser Zeit die Entwicklung der Produktivkräfte, insbesondere die Entwicklung der Kohlen- und Eisenindustrie, in Deutschland unvergleichlich schneller vor sich als in England, geschweige denn in Frankreich oder Russland. 1892 produzierte Deutschland 4,9 Millionen Tonnen Roheisen, England dagegen 6,8; aber 1912 waren es schon 17,6 gegen 9,0, d.h. ein gewaltiger Vorsprung gegenüber England!(95) Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben ausser dem Krieg, um das Missverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der „Einflusssphären“ des Finanzkapitals anderseits zu beseitigen?

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(89) „Die Neue Zeit“, 1914, 2 (32. Jahrg.), vom 11. September 1914, S. 909; vgl. auch 1915, 2, S. 107 ff.

(90) Hobson, „Imperialism“, L. 1902, S. 324.

(91) „Die Neue Zeit“, 1914, 2 (32 Jahrg.), vom 11. September 1914, S. 921; vgl. auch 1915, 2, S. 107 ff.

(92) „Die Neue Zeit“, 1915, 2, vom 30 April 1915, S. 144.

(93) R. Calwer, „Einführung in die Weltwirtschaft“, Brl. 1906.

(94) „Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich“, 1915; „Archiv für Eisenbahnwesen“, 1892; für 1890 mussten geringfügige Details hinsichtlich der Verteilung der Eisenbahnen auf die Kolonien der verschiedenen Länder annähernd berechnet werden.

(95) Vgl. auch Edgar Crammond, „The Economic Relations of the British and German Empires“ im „Journal of the Royal Statistical Society“, Juli 1914, S. 777 ff.

 

 

VIII. Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus

Wir müssen nun noch auf eine sehr wichtige Seite des Imperialismus eingehen, die bei den meisten Betrachtungen über dieses Thema nicht genügend beachtet wird. Einer der Mängel des Marxisten Hilferding ist, dass er hier im Vergleich zu dem Nichtmarxisten Hobson einen Schritt rückwärts getan hat. Wir sprechen von dem Parasitismus, der dem Imperialismus eigen ist.

Wie wir gesehen haben, ist die tiefste ökonomische Grundlage des Imperialismus das Monopol. Dieses Monopol ist ein kapitalistisches, d.h. ein Monopol, das aus dem Kapitalismus erwachsen ist und im allgemeinen Milieu des Kapitalismus, der Warenproduktion, der Konkurrenz, in einem beständigen und unlösbaren Widerspruch zu diesem allgemeinen Milieu steht. Dennoch erzeugt es, wie jedes andere Monopol, unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis. In dem Masse, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend, eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum technischen und folglich auch zu jedem anderen Fortschritt, zur Vorwärtsbewegung; und insofern entsteht die ökonomische Möglichkeit, den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten. Ein Beispiel: In Amerika hat ein gewisser Owens eine Flaschenmaschine erfunden, die eine Revolution in der Flaschenherstellung herbeiführt. Das deutsche Kartell der Flaschenfabrikanten kauft Owens‘ Patente auf und legt sie in das unterste Schubfach, um ihre Auswertung zu verhindern. Gewiss kann das Monopol unter dem Kapitalismus die Konkurrenz auf dem Weltmarkt niemals restlos und auf sehr lange Zeit ausschalten (das ist übrigens einer der Gründe, warum die Theorie des Ultraimperialismus unsinnig ist). Die Möglichkeit, durch technische Verbesserungen die Produktionskosten herabzumindern und die Profite zu erhöhen, begünstigt natürlich Neuerungen. Aber die Tendenz zur Stagnation und Fäulnis, die dem Monopol eigen ist, wirkt nach wie vor und gewinnt in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern für gewisse Zeitspannen die Oberhand.

Das Monopol der Beherrschung besonders ausgedehnter, reicher oder günstig gelegener Kolonien wirkt in derselben Richtung.

Weiter. Der Imperialismus bedeutet eine ungeheure Anhäufung von Geldkapital in wenigen Ländern, das, wie wir gesehen haben, 100 bis 150 Milliarden Francs in Wertpapieren erreicht. Daraus ergibt sich das aussergewöhnliche Anwachsen der Klasse oder, richtiger, der Schicht der Rentner, d.h. Personen, die vom „Kuponschneiden“ leben, Personen, die von der Beteiligung an irgendeinem Unternehmen völlig losgelöst sind, Personen, deren Beruf der Müssiggang ist. Die Kapitalausfuhr, eine der wesentlichsten ökonomischen Grundlagen des Imperialismus, verstärkt diese völlige Isolierung der Rentnerschicht von der Produktion noch mehr und drückt dem ganzen Land, das von der Ausbeutung der Arbeit einiger überseeischer Länder und Kolonien lebt, den Stempel des Parasitismus auf.

„Im Jahre 1893“, schrieb Hobson, „betrug das im Ausland investierte britische Kapital ca. 15 Prozent des gesamten Reichtums des Vereinigten Königreichs.“(96) Es sei daran erinnert, dass bis 1915 dieses Kapital ungefähr auf das Zweieinhalbfache gestiegen war. „Der aggressive Imperialismus“, lesen wir weiter bei Hobson, „der den Steuerzahlern so teuer zu stehen kommt und für den Industriellen und den Kaufmann so wenig Wert hat, … bildet die Quelle grosser Profite für den Kapitalisten, der Anlagemöglichkeiten für sein Kapital sucht“ (im Englischen wird dieser Begriff mit dem einen Wort „investor“ – „Kapitalanleger“, Rentner – ausgedrückt) … Die Jahreseinnahme Grossbritanniens aus seinem gesamten Aussen- und Kolonialhandel, aus Einfuhr und Ausfuhr, wird von dem Statistiker Giffen für das Jahr 1899 auf 18 Mill. £“ (ca. 170 Mill. Rubel) „geschätzt, wobei er sie mit 21/2% des Gesamtumsatzes von 800 Mill. £ annimmt.“ So gross diese Summe auch ist, vermag sie doch nicht den aggressiven Imperialismus Grossbritanniens zu erklären. Dieser findet seine Erklärung vielmehr in den 90-100 Mill. Pfund Sterling, die die Einnahmen von „investiertem“ Kapital, die Einnahmen der Rentnerschicht darstellen.

Die Einnahmen der Rentner sind also im „handelstüchtigsten“ Lande der Welt fünfmal so gross wie die Einnahmen aus dem Aussenhandel! Das ist das Wesen des Imperialismus und des imperialistischen Parasitismus.

Der Begriff „Rentnerstaat“ oder Wucherstaat wird daher in der ökonomischen Literatur über den Imperialismus allgemein gebräuchlich. Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten. „Unter den ausländischen Anlagen aber“, schreibt Schulze-Gaevernitz, „stehen diejenigen voran, welche politisch abhängigen oder nächstverbündeten Ländern zuteil werden: England borgt an Ägypten, Japan, China, Südamerika. Seine Kriegsflotte ist hier im Notfall der Gerichtsvollzieher. Politische Macht schützt England gegen die Schuldnerempörung.“(97) Sartorius von Waltershausen stellt in seinem Werk „Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Auslande“ Holland als das Muster eines „Rentnerstaates“ hin und verweist darauf, dass England und Frankreich im Begriff sind, es zu werden. (98) Schilder meint, dass fünf Industriestaaten – Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und die Schweiz – „ausgesprochene Gläubigerländer“ sind. Holland zählt er nur deshalb nicht dazu, weil dieses Land „industriell weniger entwickelt“ (99) sei. Die Vereinigten Staaten seien nur in bezug auf Amerika ein Gläubigerland.

„England“, schreibt Schulze-Gaevernitz, „wächst aus dem Industriestaat allmählich in den Gläubigerstaat. Trotz absoluter Zunahme der industriellen Produktion, auch der industriellen Ausfuhr, steigt die relative Bedeutung der Zins- und Dividendenbezüge, der Emissions-, Kommissions- und Spekulationsgewinne für die Gesamtvolkswirtschaft. Es ist diese Tatsache meiner Meinung nach die wirtschaftliche Grundlage des imperialistischen Aufschwungs. Der Gläubiger hängt mit dem Schuldner dauernder zusammen als der Verkäufer mit dem Käufer.“(100) Über Deutschland schrieb 1911 A. Lansburgh, der Herausgeber der Berliner Zeitschrift „Die Bank“, in dem Artikel „Der deutsche Rentnerstaat“: „Man spottet in Deutschland gern über den Hang zum Rentnertum, der bei der französischen Bevölkerung zu finden ist, und vergisst dabei, dass, soweit der Mittelstand in Betracht kommt, die deutschen Verhältnisse den französischen immer ähnlicher werden.“(101)

Der Rentnerstaat ist der Staat des parasitären, verfaulenden Kapitalismus, und dieser Umstand muss sich unbedingt in allen sozialpolitischen Verhältnissen der betreffenden Länder im allgemeinen wie auch in den zwei Hauptströmungen der Arbeiterbewegung im besonderen widerspiegeln. Um das möglichst anschaulich zu zeigen, überlassen wir Hobson das Wort, der als Zeuge am „zuverlässigsten“ ist, da man ihn unmöglich der Voreingenommenheit für „marxistische Orthodoxie“ verdächtigen kann; anderseits ist er Engländer und kennt gut die Verhältnisse in dem an Kolonien wie an Finanzkapital und imperialistischer Erfahrung reichsten Lande.

Unter dem frischen Eindruck des Burenkriegs schilderte Hobson den Zusammenhang des Imperialismus mit den Interessen der „Finanziers“, deren wachsende Profite bei Aufträgen, Lieferungen usw., und schrieb: „Wenn es auch die Kapitalisten sind, die diese ausgesprochen parasitäre Politik lenken, so üben doch dieselben Motive auf gewisse Arbeiterkategorien ihre Wirkung aus. In vielen Städten sind die wichtigsten Industriezweige von Regierungsaufträgen abhängig: der Imperialismus der Zentren der Hütten- und Schiffbauindustrie ist in nicht geringem Masse dieser Tatsache zuzuschreiben.“ Zweierlei Umstände führten nach Hobsons Meinung zur Schwächung der alten Imperien: 1. „ökonomischer Parasitismus“ und 2. Zusammensetzung des Heeres aus Angehörigen abhängiger Völker. „Der erste ist die Gepflogenheit des ökonomischen Parasitismus, die darin besteht, dass der herrschende Staat seine Provinzen, Kolonien und die abhängigen Länder ausnutzt, um seine herrschende Klasse zu bereichern und die Fügsamkeit seiner unteren Klassen durch Bestechung zu erkaufen.“ Die Voraussetzung für die ökonomische Möglichkeit einer solchen Bestechung, einerlei in welcher Form sie geschieht, ist – fügen wir von uns aus hinzu – monopolistisch hoher Profit.

Über den zweiten Umstand schreibt Hobson: „Zu den seltsamsten Symptomen der Blindheit des Imperialismus gehört die Sorglosigkeit, mit der Grossbritannien, Frankreich und andere imperialistische Nationen diesen Weg beschreiten. Grossbritannien ist am weitesten gegangen. Die meisten Schlachten, durch die wir unser indisches Reich erobert haben, sind von unseren Eingeborenenarmeen ausgefochten worden; in Indien, und in letzter Zeit auch in Ägypten, sind grosse stehende Heere dem Kommando von Briten unterstellt; fast alle Kriege, die mit unseren afrikanischen Besitzungen mit Ausnahme der südlichen zusammenhängen, wurden von Eingeborenen für uns geführt.“

Die Perspektive der Aufteilung Chinas veranlasst Hobson zu folgender ökonomischer Einschätzung: „Der grösste Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Süd-England, an der Riviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von den reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas grösseren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch grösseren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden. die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen.“ „Wir haben die Möglichkeit einer noch umfassenderen Vereinigung der westlichen Länder angedeutet, eine europäische Föderation der Grossmächte, die, weit entfernt, die Sache der Weltzivilisation voranzubringen, die ungeheure Gefahr eines westlichen Parasitismus heraufbeschwören könnte: eine Gruppe fortgeschrittener Industrienationen, deren obere Klassen aus Asien und Afrika gewaltige Tribute beziehen und mit Hilfe dieser Tribute grosse Massen gefügigen Personals unterhalten, die nicht mehr in der Produktion von landwirtschaftlichen und industriellen Massenerzeugnissen, sondern mit persönlichen Dienstleistungen oder untergeordneter Industriearbeit unter der Kontrolle einer neuen Finanzaristokratie beschäftigt werden. Mögen diejenigen, die eine solche Theorie“ (es müsste heissen Perspektive) „als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmass ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, Investoren, von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das grösste potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren. Die Situation ist viel zu kompliziert, das Spiel der Weltkräfte viel zu unberechenbar, als dass diese oder irgendeine andere Zukunftsdeutung als einzige mit Sicherheit zutreffen müsste. Aber die Einflüsse, die den Imperialismus Westeuropas gegenwärtig beherrschen, bewegen sich in dieser Richtung, und wenn ihnen nicht Widerstand geleistet wird oder sie nicht in eine andere Richtung gedrängt werden, dann bewegen sie sich auf dieses Ziel zu.“(102)

Der Verfasser hat vollkommen recht. Würden die Kräfte des Imperialismus nicht auf Widerstand stossen. so würden sie eben dahin führen. Die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Europa in der heutigen, imperialistischen Situation ist hier richtig bewertet. Man müsste nur hinzufügen, dass auch innerhalb der Arbeiterbewegung die Opportunisten, die heutzutage in den meisten Ländern vorübergehend gesiegt haben, sich systematisch und beharrlich gerade auf dieses Ziel “ zubewegen“. Der Imperialismus, der die Aufteilung der Welt und die Ausbeutung nicht allein Chinas bedeutet, der monopolistisch hohe Profite für eine Handvoll der reichsten Länder bedeutet, schafft die ökonomische Möglichkeit zur Bestechung der Oberschichten des Proletariats und nährt, formt und festigt dadurch den Opportunismus. Nur darf man die dem Imperialismus im Allgemeinen und dem Opportunismus im besonderen entgegenwirkenden Kräfte nicht vergessen, die der Sozialliberale Hobson natürlich nicht sieht.

Der deutsche Opportunist Gerhard Hildebrand, der seinerzeit wegen seiner Verteidigung des Imperialismus aus der Partei ausgeschlossen wurde, heute aber wohl ein Führer der sogenannten „sozialdemokratischen“ Partei Deutschlands sein könnte, ergänzt Hobson ausgezeichnet, indem er die „Vereinigten Staaten von Westeuropa“ (ohne Russland) propagiert. und zwar zum „Zusammenwirken“ gegen … die Neger Afrikas, gegen eine „islamitische Bewegung grossen Stils“, zur „Bildung einer Heeres- und Flottenmacht allerersten Ranges“, gegen eine „chinesisch-japanische Koalition“ u.a.m. (103)

Die Schilderung, die uns Schulze-Gaevernitz vom „britischen Imperialismus“ gibt, deckt dieselben Merkmale des Parasitismus auf. Während sich in den Jahren 1865 bis 1898 das britische Volkseinkommen etwa verdoppelt hat, hat sich das Einkommen „vom Auslande“ in dieser Zeitspanne verneunfacht. Wenn zu den „Verdiensten“ des Imperialismus „die Erziehung der Farbigen zur Arbeit“ gerechnet wird (ohne Zwang gehe es dabei nicht .. .), so besteht die „Gefahr“ des Imperialismus darin, dass Europa „die Arbeit überhaupt – zunächst die landwirtschaftliche und montane, sodann auch die gröbere industrielle Arbeit – auf die farbige Menschheit abschiebt und sich selbst in die Rentnerrolle zurückzieht, womit es vielleicht die wirtschaftliche und ihr folgend die politische Emanzipation der farbigen Rassen vorbereitet“.

Immer mehr Land wird in England der Landwirtschaft entzogen und für Sport und Amüsement der Reichen verwendet. Von Schottland, diesem aristokratischsten Jagd- und Sportplatz der Welt, wird gesagt. dass es „von seiner Vergangenheit und Herrn Carnegie“ (dem amerikanischen Milliardär) „lebt“. Allein für Pferderennen und Fuchsjagden gibt England jährlich 14 Millionen Pfund Sterling (etwa 130 Mill. Rubel) aus. Die Zahl der Rentner beläuft sich in England auf rund eine Million. Der Prozentsatz der produzierenden Bevölkerung geht zurück:

Bevölkerung von England Arbeiter in den Hauptindustrien In % der Bevölkerung
(Millionen)
1851 17,9 4,1 23%
1901 32,5 4,9 15%

Nun ist der bürgerliche Erforscher des „britischen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ gezwungen, wenn er von der englischen Arbeiterklasse spricht, systematisch einen Unterschied zu machen zwischen der „Oberschicht“ der Arbeiter und der „eigentlichen proletarischen Unterschicht“. Die Oberschicht liefert die Mitgliedermasse der Genossenschaften und Gewerkschaften, der Sportvereine und der zahllosen religiösen Sekten. Ihrem Niveau ist auch das Wahlrecht angepasst, das in England „immer noch beschränkt genug ist, um die eigentliche proletarische Unterschicht fernzuhalten„!! Um die Lage der englischen Arbeiterklasse zu beschönigen, pflegt man nur von dieser Oberschicht zu sprechen, die die Minderheit des Proletariats ausmacht: bei der Arbeitslosigkeit z.B. „handelt es sich überwiegend um eine Frage Londons und der proletarischen Unterschicht, welche politisch wenig in das Gewicht fallt“ … (104) Es hätte heissen müssen: welche für die bürgerlichen Politikaster und die „sozialistischen“ Opportunisten wenig ins Gewicht fällt.

Zu den mit dem geschilderten Erscheinungskomplex verknüpften Besonderheiten des Imperialismus gehört die abnehmende Auswanderung aus den imperialistischen Ländern und die zunehmende Einwanderung (Zustrom von Arbeitern und Übersiedlung) in diese Länder aus rückständigeren Ländern mit niedrigeren Arbeitslöhnen. Die Auswanderung aus England sinkt, wie Hobson feststellt, seit 1884: Sie betrug in jenem Jahr 242.000 und 169.000 im Jahre 1900. Die Auswanderung aus Deutschland erreichte ihren Höhepunkt im Jahrzehnt 1881-1890, nämlich 1.453.000, und sank in den zwei folgenden Jahrzehnten auf 544.000 bzw. 341.000. Dafür stieg die Zahl der Arbeiter, die aus Österreich, Italien, Russland usw. nach Deutschland kamen. Nach der Volkszählung vom Jahre 1907 gab es in Deutschland 1.342.294 Ausländer, davon 440.800 Industriearbeiter und 257.329 Landarbeiter. (105) In Frankreich sind die Arbeiter im Bergbau „zum grossen Teil“ Ausländer: Polen, Italiener und Spanier. (106) In den Vereinigten Staaten nehmen die Einwanderer aus Ost- und Südeuropa die am schlechtesten bezahlten Stellen ein, während die amerikanischen Arbeiter den grössten Prozentsatz der Aufseher und der bestbezahlten Arbeiter stellen. (107) Der Imperialismus hat die Tendenz, auch unter den Arbeitern privilegierte Kategorien auszusondern und sie von der grossen Masse des Proletariats abzuspalten.

Es muss bemerkt werden, dass in England die Tendenz des Imperialismus, die Arbeiter zu spalten, den Opportunismus unter ihnen zu stärken und eine zeitweilige Fäulnis der Arbeiterbewegung hervorzurufen, viel früher zum Vorschein kam als Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Denn zwei der wichtigsten Merkmale des Imperialismus – riesiger Kolonialbesitz und Monopolstellung auf dem Weltmarkt – traten in England schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts hervor. Marx und Engels verfolgten jahrzehntelang systematisch diesen Zusammenhang des Opportunismus in der Arbeiterbewegung mit den imperialistischen Besonderheiten des englischen Kapitalismus. Engels schrieb z.B. am 7. Oktober 1858 an Marx, „… dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schliesslich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermassen gerechtfertigt.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 29, S. 358.) Fast ein Vierteljahrhundert später, in seinem Brief vom 11. August 1881, spricht er von Gewerkschaften, „welche nur mit jenen schlechtesten englischen vergleichbar sind, die es zulassen, sich von an die Bourgeoisie verkauften oder zumindest von ihr bezahlten Leuten führen zu lassen“. (Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 35, S. 20.| Und in einem Brief an Kautsky vom 12. September 1882 schreibt Engels: „Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken … Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und Liberal-Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands.“(108) (Dasselbe sagt Engels auch im Vorwort zur zweiten Auflage der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ 1892.)

Hier sind Ursachen und Wirkungen deutlich aufgezeigt. Ursachen:

  1. Ausbeutung der ganzen Welt durch das betreffende Land; 2. seine Monopolstellung auf dem Weltmarkt; 3. sein Kolonialmonopol. Wirkungen: 1. Verbürgerung eines Teils des englischen Proletariats; 2. ein Teil des Proletariats lässt sich von Leuten führen, die von der Bourgeoisie gekauft sind oder zumindest von ihr bezahlt werden. Der Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Aufteilung der Welt unter einige wenige Staaten zu Ende geführt, von denen jeder gegenwärtig einen nicht viel kleineren Teil der „ganzen Welt“ ausbeutet (im Sinne der Gewinnung von Extraprofit) als England im Jahre 1858; jeder nimmt eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt ein dank den Trusts, den Kartellen, dem Finanzkapital und dem Verhältnis des Gläubigers zum Schuldner; jeder besitzt bis zu einem gewissen Grade ein Kolonialmonopol (wir sahen, dass von den 75 Mill. Quadratkilometern allerKolonien der Welt 65 Mill., d.h. 86% in den Händen von sechs Mächten konzentriert sind; 61Mill., d.h. 81%, sind in den Händen von 3 Mächten konzentriert).

Das Merkmal der heutigen Lage besteht in ökonomischen und politischen Bedingungen, die zwangsläufig die Unversöhnlichkeit des Opportunismus mit den allgemeinen und grundlegenden Interessen der Arbeiterbewegung verstärken mussten: Der Imperialismus hat sich aus Ansätzen zum herrschenden System entwickelt; die kapitalistischen Monopole haben in der Volkswirtschaft und in der Politik den ersten Platz eingenommen; die Aufteilung der Welt ist beendet; und anderseits sehen wir an Stelle des ungeteilten englischen Monopols den Kampf einer kleinen Anzahl imperialistischer Mächte um die Beteiligung am Monopol, der den ganzen Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnet. Der Opportunismus kann jetzt nicht mehr in der Arbeiterbewegung irgendeines Landes auf eine lange Reihe von Jahrzehnten hinaus völlig Sieger bleiben, so wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England gesiegt hatte; in einer Reihe von Ländern ist der Opportunismus vielmehr reif, überreif geworden und in Fäulnis übergegangen, da er sich als Sozialchauvinismus mit der bürgerlichen Politik restlos verschmolzen hat. (109)

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(96) Hobson, S. 59,62.

(97) Schulze-Gaevernitz, „Br. Imp.“, S. 320 u.a.

(98) Sart. von Waltershausen, „D. volkswirt. Syst. etc.“, Brl. 1907, Buch IV.

(99) Schilder, S. 393.

(100) Schulze-Gaevernitz, „Br. Imp.“, S. 122.

(101) „Die Bank“, 1911, 1, S. 10/11.

(102) Hobson, S. 103, 205, 144, 335, 386.

(103) Gerhard Hildebrand, „Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus“, 1910, S. 229 ff.

(104) Schulze-Gaevernitz, „Br. Imp.“, S. 301.

(105) „Statistik des Deutschen Reichs“, Bd. 211.

(106) Henger, „Die Kapitalsanlage der Franzosen“, Stuttg. 1913.

(107) Hourwich, „Immigration and Labor“, N. Y. 1913.

(108) Briefwechsel von Marx und Engels, Bd. II, S. 290; IV, 433. [Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 35, S. 357.] K. Kautsky, „Sozialismus und Kolonialpolitik“, Brl. 1907, S. 79; diese Broschüre schrieb Kautsky in jenen unendlich fernen Zeiten, als er noch Marxist war.

(109) Der russische Sozialchauvinismus der Herren Potressow, Tschchenkeli, Maslow usw. sowohl in seiner offenen Gestalt wie in der verkappten (der Herren Tschcheïdse, Skobelew, Axelrod, Martow usw.) ist ebenfalls aus der russischen Abart des Opportunismus, nämlich dem Liquidatorentum, hervorgegangen.

 

 

IX. Kritik des Imperialismus

Die Kritik des Imperialismus fassen wir im weiten Sinne des Wortes als die Stellung auf, die die verschiedenen Gesellschaftsklassen in Verbindung mit ihrer allgemeinen Ideologie zur Politik des Imperialismus einnehmen.

Einerseits die gigantischen Ausmasse des in wenigen Händen konzentrierten Finanzkapitals, das sich ein aussergewöhnlich weitverzweigtes und dichtes Netz von Beziehungen und Verbindungen schafft, durch das es sich die Masse nicht nur der mittleren und kleinen, sondern selbst der kleinsten Kapitalisten und Unternehmer unterwirft; anderseits der verschärfte Kampf mit den anderen nationalstaatlichen Finanzgruppen um die Aufteilung der Welt und um die Herrschaft über andere Länder – all dies führt zum geschlossenen Übergang aller besitzenden Klassen auf die Seite des Imperialismus. „Allgemeine“ Begeisterung für seine Perspektiven, wütende Verteidigung des Imperialismus, seine Beschönigung in jeder nur möglichen Weise – das ist das Zeichen der Zeit. Die imperialistische Ideologie dringt auch in die Arbeiterklasse ein. Diese ist nicht durch eine chinesische Mauer von den anderen Klassen getrennt. Wenn die Führer der heutigen sogenannten „sozialdemokratischen“ Partei Deutschlands mit Recht „Sozialimperialisten“ genannt werden, d.h. Sozialisten in Worten, Imperialisten in der Tat, so hat Hobson bereits 1902 in England das Vorhandensein von „Fabier-Imperialisten“ festgestellt, die der opportunistischen „Gesellschaft der Fabier“ angehören.

Bürgerliche Gelehrte und Publizisten treten als Verteidiger des Imperialismus gewöhnlich in etwas verkappter Form auf, indem sie die völlige Herrschaft des Imperialismus und seine tiefen Wurzeln vertuschen, dafür aber Einzelheiten und nebensächliche Details in den Vordergrund zu rücken versuchen, um durch ganz unernste „Reform“projekte von der Art einer Polizeiaufsicht über die Trusts oder Banken u.a. die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen abzulenken. Seltener treten zynische, offene Imperialisten auf, die den Mut haben, auszusprechen, wie unsinnig es ist, die Grundeigenschaften des Imperialismus reformieren zu wollen.

Wir wollen ein Beispiel anführen. Im „Weltwirtschaftlichen Archiv“ befleissigen sich die deutschen Imperialisten die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien, besonders natürlich in den nichtdeutschen, zu verfolgen. Sie registrieren eine Gärung und Proteste in Indien, eine Bewegung in Natal (Südafrika), in Niederländisch Indien usw. In der Besprechung eines englischen Berichts über die vom 28. bis 30. Juni 1910 abgehaltene Konferenz unterworfener Nationen und Rassen, an der Vertreter verschiedener unter Fremdherrschaft stehender Völker Asiens, Afrikas und Europas teilnahmen schreibt einer dieser Imperialisten in Einschätzung der auf der Konferenz gehaltenen Reden: „Der Imperialismus, so heisst es, soll bekämpft werden; die herrschenden Staaten sollen das Recht der unterworfenen Völker auf Selbstregierung anerkennen, und ein internationaler Gerichtshof soll die Handhabung der zwischen den Grossmächten und den schwächeren Völkern geschlossenen Verträge überwachen. Über diese frommen Wünsche kommt man nicht hinaus. Von der Einsicht, dass der Imperialismus mit dem Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt unzertrennlich verbunden ist, bemerken wir keine Spur und darum (!!) ebensowenig von der Einsicht, dass eine direkte Bekämpfung des Imperialismus aussichtslos ist, es sei denn, dass man sich darauf beschränkt, gegen einige besonders hässliche Exzesse aufzutreten.“(110) Weil eine Verbesserung der Grundlagen des Imperialismus durch Reformen ein Betrug, ein „frommer Wunsch“ ist, weil die bürgerlichen Vertreter der unterdrückten Nationen nicht „darüber hinaus“ kommen, darum geht der bürgerliche Vertreter der unterdrückenden Nation nach rückwärts „darüber hinaus“, nämlich bis zur Liebedienerei vor dem Imperialismus, die mit Ansprüchen auf „Wissenschaftlichkeit“ verbrämt wird. Auch eine „Logik“!

Die Fragen, ob eine Änderung der Grundlagen des Imperialismus durch Reformen möglich sei, ob man vorwärts gehen solle, zur weiteren Verschärfung und Vertiefung der durch ihn erzeugten Widersprüche, oder rückwärts, zu deren Abstumpfung, das sind Kernfragen der Kritik des Imperialismus. Da zu den politischen Besonderheiten des Imperialismus die Reaktion auf der ganzen Linie sowie die Verstärkung der nationalen Unterdrückung in Verbindung mit dem Druck der Finanzoligarchie und mit der Beseitigung der freien Konkurrenz gehören, so tritt mit Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen imperialistischen Ländern eine kleinbürgerlich-demokratische Opposition gegen den Imperialismus auf. Und der Bruch Kautskys und der weitverbreiteten internationalen Strömung des Kautskyanertums mit dem Marxismus besteht gerade darin, dass Kautsky es nicht nur unterlassen, es nicht verstanden hat, dieser kleinbürgerlichen, reformistischen, ökonomisch von Grund aus reaktionären Opposition entgegenzutreten, sondern sich im Gegenteil praktisch mit ihr vereinigt hat.

In den Vereinigten Staaten hat der imperialistische Krieg gegen Spanien im Jahre 1898 die Opposition der „Antiimperialisten“ hervorgerufen; diese letzten Mohikaner der bürgerlichen Demokratie, die diesen Krieg ein „Verbrechen“ nannten, hielten die Annexion fremder Länder für einen Verfassungsbruch, erklärten die Behandlung des Eingeborenenführers auf den Philippinen, Aguinaldo, für einen „chauvinistischen Betrug“ (man hatte ihm erst die Freiheit seines Landes versprochen, dann aber amerikanische Truppen landen lassen und die Philippinen annektiert) und zitierten Lincolns Ausspruch: „Wenn der Weisse sich selbst regiert, so ist das Selbstverwaltung; wenn er aber sich selbst und zugleich noch andere regiert, so ist das nicht mehr Selbstverwaltung, es ist Despotie.“(111) Aber solange diese ganze Kritik davor zurückscheute, die unzertrennliche Verbindung des Imperialismus mit den Trusts und folglich auch mit den Grundlagen des Kapitalismus zuzugeben, solange sie Angst hatte, sich den Kräften, die durch den Grosskapitalismus und seine Entwicklung erzeugt werden, anzuschliessen, solange blieb diese Kritik ein „frommer Wunsch“

Von derselben Art ist die Grundeinstellung Hobsons in seiner Kritik des Imperialismus. Hobson nahm Kautsky vorweg, indem er sich gegen die „Unvermeidlichkeit des Imperialismus“ wandte und sich auf die Notwendigkeit berief, „die Konsumtionsfähigkeit der Bevölkerung zu heben“ (unter dem Kapitalismus!). Auf dem kleinbürgerlichen Standpunkt in der Kritik des Imperialismus, der Allmacht der Banken, der Finanzoligarchie usw. stehen auch die von uns mehrfach zitierten Agahd, A. Lansburgh, L. Eschwege und von den französischen Autoren Victor Bérard, der Verfasser eines oberflächlichen Buches: „England und der Imperialismus“, das 1900 erschienen ist. Sie alle, die durchaus nicht den Anspruch erheben, Marxisten zu sein, stellen dem Imperialismus die freie Konkurrenz und die Demokratie entgegen, verurteilen das Abenteuer der Bagdadbahn, das zu Konflikten und zum Krieg führe, äussern „fromme Wünsche“ nach Frieden usw. – bis hinauf zu dem Statistiker der internationalen Emissionen, A. Neymarck, der 1912 die Hunderte von Milliarden Francs „internationaler“ Werte berechnete und ausrief: „Ist es denkbar, dass der Frieden gebrochen werden könnte? … dass man bei diesen ungeheuren Zahlen riskieren würde, einen Krieg zu beginnen?“(112)

Bei bürgerlichen Ökonomen ist eine derartige Naivität nicht verwunderlich; für sie ist es überdies auch vorteilhaft, so naiv zu tun und „im Ernst“ von Frieden unter dem Imperialismus zu reden. Was ist aber bei Kautsky vom Marxismus übriggeblieben, wenn er sich in den Jahren 1914, 1915, 1916 auf denselben bürgerlich-reformistischen Standpunkt stellt und behauptet, „alle“ (Imperialisten, Quasisozialisten und Sozialpazifisten) seien sich in der Frage des Friedens „einig“? Statt einer Analyse und Aufdeckung der tiefen Widersprüche des Imperialismus sehen wir nichts als den reformerischen „frommen Wunsch“, sie mit einer Handbewegung abzutun, sich mit Worten über sie hinwegzusetzen.

Hier ein Musterbeispiel von Kautskys ökonomischer Kritik des Imperialismus. Er nimmt die Daten über Englands Ein- und Ausfuhrhandel mit Ägypten für die Jahre 1872 und 1912; es stellt sich heraus dass diese Ein- und Ausfuhr langsamer wuchs als die gesamte Ein- und Ausfuhr Englands. Und Kautsky folgert daraus „Wir haben keine Ursache, anzunehmen, dass er“ (der Handel Englands mit Ägypten) ohne die militärische Besetzung Ägyptens durch das blosse Gewicht der ökonomischen Faktoren weniger gewachsen wäre.“ „Diese Ausdehnugsbestrebungen“ (des Kapitals) „werden am besten nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern durch die friedlich Demokratie gefördert.“(113)

Diese Betrachtungen Kautskys. die ihm sein russischer Schildknappe (und russischer Beschützer der Sozialchauvinisten). Herr Spectator, in hundertfältigen Variationen nachplappert, bilden die Grundlage der Kautskyschen Kritik des Imperialismus, und deshalb müssen wir ausführlicher darauf eingehen. Wir beginnen mit einem Zitat aus Hilferding, dessen Schlussfolgerungen Kautsky mehrfach, auch im April 1915, als „von den sozialistischen Theoretikern einhellig akzeptiert“ erklärte.

„Es ist nicht Sache des Proletariats“, schreibt Hilferding, „der fortgeschritteneren kapitalistischen Politik gegenüber die überwundene der Freihandelsära und der Staatsfeindschaft entgegenzusetzen. Die Antwort des Proletariats auf die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals, den Imperialismus, kann nicht der Freihandel, kann nur der Sozialismus sein. Nicht das reaktionär gewordene Ideal der Wiederherstellung der freien Konkurrenz, sondern völlige Aufhebung der Konkurrenz durch Überwindung des Kapitalismus kann jetzt allein das Ziel proletarischer Politik sein.“(114)

Kautsky hat mit dem Marxismus gebrochen, da er für die Epoche des Finanzkapitals ein „reaktionär gewordenes Ideal“ die „friedliche Demokratie“, das „blosse Gewicht der ökonomischen Faktoren“ predigt – denn objektiv zerrt uns dieses Ideal zurück, vom mononpolitischen zum nichtmonopolistischen Kapitalismus, ist es ein reformistischer Betrug.

Der Handel mit Ägypten (oder mit einer anderen Kolonie oder Halbkolonie) „wäre“ stärker „gewachsen“ ohne militärische Besetzung, ohne Imperialismus, ohne Finanzkapital. Was bedeutet das? Dass sich der Kapitalismus rascher entwickelt hätte, wenn die freie Konkurrenz nicht eingeschränkt gewesen wäre, weder durch Monopole überhaupt noch durch „Beziehungen“ oder den Druck (d.h. wiederum durch das Monopol) des Finanzkapitals, noch durch die monopolistische Beherrschung von Kolonien seitens einzelner Länder?

Einen anderen Sinn können Kautskys Betrachtungen nicht haben, und dieser „Sinn“ ist Unsinn. Angenommen, es wäre richtig, dass sich Kapitalismus und Handel bei freier Konkurrenz, ohne irgendwelche Monopole, schneller entwickeln würden. Aber je schneller die Entwicklung des Handels und des Kapitalismus vor sich geht, umso stärker ist doch die Konzentration der Produktion und des Kapitals, die das Monopol erzeugt. Und die Monopole sind ja schon entstanden, gerade aus der freien Konkurrenz! Selbst wenn die Monopole jetzt die Entwicklung zu verlangsamen begonnen haben, so ist das dennoch kein Argument zugunsten der freien Konkurrenz, die unmöglich geworden ist, nachdem sie die Monopole erzeugt hat.

Wie immer man Kautskys Betrachtungen auch dreht und wendet, es kommt nichts anderes heraus als reaktionäre Einstellung und bürgerliches Reformertum.

Wollte man diese Betrachtung korrigieren und sagen, wie es Spectator tut: der Handel der englischen Kolonien mit England entwickelt sich jetzt langsamer als der Handel mit anderen Ländern, so würde das Kautsky auch nicht retten. Denn England wird ebenfalls vom Monopol, ebenfalls vom Imperialismus, nur dem eines anderen Landes (Amerikas, Deutschlands), geschlagen. Bekanntlich haben die Kartelle zu Schutzzöllen neuer, origineller Art geführt: es werden gerade diejenigen Produkte geschützt (das hat bereits Engel in dritten Band des „Kapitals“ |Karl Marx, „Das Kapital“, Bd. III, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S. 130| vermerkt), die exportfähig sind. Bekannt ist ferner das den Kartellen und dem Finanzkapital eigene System der „Ausfuhr zu Schleuderpreisen“, des „Dumping“, wie die Engländer sagen: Im Inland verkauft das Kartell seine Erzeugnisse zu monopolistischen Höchstpreisen, im Ausland aber setzt es sie zu Schleuderpreisen ab, um die Konkurrenz zu untergraben, die eigene Produktion zu steigern usw. Wenn Deutschlands Handel mit den englischen Kolonien sich schneller entwickelt als der Englands, so beweist das lediglich, dass der deutsche Imperialismus frischer, kräftiger, organisierter ist und höher steht als der englische, es beweist aber keineswegs die „Überlegenheit“ des freien Handels, denn hier kämpft nicht Freihandel gegen Schutzzollsystem und koloniale Abhängigkeit, sondern Imperialismus gegen Imperialismus, Monopol gegen Monopol, Finanzkapital gegen Finanzkapital. Die Überlegenheit des deutschen Imperialismus über den englischen ist stärker als die Mauer der Kolonialgrenzen oder der Schutzzölle: Daraus ein „Argument“ für Freihandel und „friedliche Demokratie“ zu konstruieren ist eine Plattheit, heisst die Grundzüge und Haupteigenschaften des Imperialismus vergessen, heisst an Stelle des Marxismus spiessbürgerlichen Reformismus setzen.

Interessant ist, dass sogar der bürgerliche Ökonom A. Lansburgh, der den Imperialismus genauso spiessbürgerlich kritisiert wie Kautsky, immerhin mit mehr Wissenschaftlichkeit an die Bearbeitung der Handelsstatistik heranging. Er verglich nicht ein einzelnes, zufällig herausgegriffenes Land und nicht nur eine Kolonie mit den anderen Ländern, sondern er verglich den Export eines imperialistischen Landes 1. nach Ländern, die von ihm finanziell abhängig sind, von ihm Geld leihen, und 2. nach Ländern, die finanziell unabhängig sind. Dabei kam er zu folgendem Ergebnis:

Ausfuhr aus Deutschland
(in Mill. Mark)
1889 1908 Steigerung in %
Nach den von Deutschland finanziell abhängigen Ländern: Rumänien 48,2 70,8 +  47%
Portugal 19,0 32,8 +  73%
Argentinien 60,7 147,0 + 143%
Brasilien 48,7 84,5 +  73%
Chile 28,3 52,4 +  85%
Türkei 29,9 64,0 + 114%
Summa 234,8 451,5 +  92%
Nach den von Deutschland finanziell unabhängigen Ländern: Grossbritannien 651,8 997,4 +  53%
Frankreich 210,2 437,9 + 108%
Belgien 137,2 322,8 + 135%
Schweiz 177,4 401,1 + 127%
Australien 21,2 64,5 + 205%
Niederländisch-Indien 8,8 40,7 + 363%
Summa 1.206,6 2.264,4 +  87%

Lansburgh hat die Summen nicht gezogen und deshalb seltsamerweise nicht bemerkt, dass diese Zahlen, wenn sie überhaupt etwas beweisen, nur gegen ihn sprechen, denn der Export nach den finanziell abhängigen Ländern wuchs, wenn auch nur um weniges, immerhin schneller als der nach den finanziell unabhängigen Ländern (wir betonen „wenn“, denn Lansburghs Statistik ist bei weitem noch nicht vollständig).

Dem Zusammenhang zwischen Export und Anleihen nachgehend, schreibt Lansburgh:

„In den Jahren 1890/91 wurde eine rumänische Anleihe von deutschen Banken übernommen, die bereits in den vorhergehenden Jahren Vorschüsse darauf gegeben hatten. Die Anleihe diente in der Hauptsache der Beschaffung von Eisenbahnmaterial, das aus Deutschland bezogen wurde. Im Jahre 1891 betrug die deutsche Ausfuhr nach Rumänien 55 Mill. M. Im nächsten Jahre sank sie auf 39,4 Millionen, um mit Unterbrechungen bis auf 25,4 Millionen (1900) zurückzugehen. Erst in den allerletzten Jahren ist der Stand von 1891 wieder erreicht worden – dank ein paar neuen Anleihen.

Die deutsche Ausfuhr nach Portugal stieg infolge der Anleihen von 1888/89 bis auf 21,1 Mill. M (1890), fiel dann in den beiden folgenden Jahren auf 16,2 und 7,4 Millionen und erreichte ihren alten Stand erst wieder im Jahre 1903.

Noch krasser gestalteten sich die Dinge im deutsch-argentinischen Verkehr. Infolge der Anleihen von 1888 und 1890 bezifferte sich die deutsche Ausfuhr nach Argentinien im Jahre 1889 auf 60,7 Mill. M. Zwei Jahre später betrug die Ausfuhr nur noch 18,6 Mill. M, also nicht den dritten Teil. Erst 1901 wurde der Höhepunkt von 1889 erstmalig überschritten, was mit der Übernahme neuer Staats- und Stadtanleihen, der Geldhingabe zur Errichtung von Elektrizitätswerken und sonstigen Kreditgewährungen zusammenhing.

Die Ausfuhr nach Chile stieg infolge der Anleihe von 1889 auf 45,2 Mill. M (1892) und fiel im zweiten Jahr darauf unter die Hälfte, auf 22,5 Mill. M. Nach Übernahme einer neuen Anleihe seitens deutscher Banken im Jahre 1906 stieg die Ausfuhr auf 84,7 Mill. M (1907), um bereits 1908 wieder auf 52,4 Millionen zu fallen.“(115)

Lansburgh leitet aus diesen Tatsachen die ergötzliche Spiessermoral ab, wie unsicher und ungleichmässig die an Anleihen geknüpfte Ausfuhr sei, wie übel es sei, Kapitalien nach dem Ausland zu exportieren, anstatt die einheimische Industrie „natürlich“ und „harmonisch“ fortzuentwickeln, wie „teuer“ Krupp die Millionen Bakschisch bei Auslandsanleihen zu stehen kommen u.dgl.m. Aber die Tatsachen besagen deutlich: Die Steigerung des Exports ist gerade an die Schwindelmanöver des Finanzkapitals geknüpft, das sich nicht um die bürgerliche Moral schert und dem Ochsen das Fell zweimal über die Ohren zieht: einmal durch die Profite aus der Anleihe und dann durch die Profite aus derselben Anleihe, sobald sie zum Ankauf der Kruppschen Erzeugnisse oder der Eisenbahnmaterialien des Stahlsyndikat usw. verwendet wird.

Wir wiederholen: Wir halten Lansburghs Statistik keineswegs für vollkommen, aber sie musste angeführt werden, denn sie ist wissenschaftlicher als die Kautskys und Spectators, da Lansburgh an die Frage einigermassen richtig herangeht. Um über die Bedeutung des Finanzkapitals für die Ausfuhr usw. ein Urteil abzugeben, muss man es verstehen, den Zusammenhang der Ausfuhr speziell und lediglich mit den Manövern der Finanziers, speziell und lediglich mit dem Absatz der Kartellerzeugnisse usw. herauszuarbeiten. Aber einfach Kolonien überhaupt mit Nichtkolonien, einen Imperialismus mit einem andern Imperialismus, eine Halbkolonie oder Kolonie (Ägypten) mit allen übrigen Ländern zu vergleichen heisst gerade das Wesen der Dinge umgehen und vertuschen.

Die theoretische Kritik des Imperialismus bei Kautsky hat eben deshalb nichts mit dem Marxismus gemein, sie taugt eben deshalb nur als Ausgangspunkt für die Propaganda des Friedens und der Einheit mit den Opportunisten und Sozialchauvinisten, weil diese Kritik gerade die tiefsten und fundamentalsten Widersprüche des Imperialismus umgeht und vertuscht: den Widerspruch zwischen den Monopolen und der neben ihnen existierenden freien Konkurrenz, zwischen den riesenhaften „Transaktionen“ (und riesenhaften Profiten) des Finanzkapitals und dem „ehrlichen“ Handel auf dem freien Markt, zwischen den Kartellen und Trusts einerseits und der nichtkartellierten Industrie anderseits usw.

Ebenso reaktionären Charakter trägt auch die von Kautsky erfundene berüchtigte Theorie des „Ultraimperialismus“. Man vergleiche nur seine Betrachtung über dieses Thema im Jahre 1915 mit der Hobsons aus dem Jahre 1902.

Kautsky: „… ob es nicht möglich sei, dass die jetzige imperialistische Politik durch eine neue, ultraimperialistische verdrängt werde, die a n Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte. Eine solche neue Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar. Ob auch realisierbar, das zu entscheiden fehlen noch die genügenden Voraussetzungen.“(116)

Hobson: „Das Christentum. das sich so auf wenige grosse föderative Reiche ausgebreitet hat, von denen jedes eine Reihe von unzivilisierten Kolonien und abhängigen Ländern beherrscht, erscheint vielen als höchst gesetzmässige Entwicklung der Tendenzen der Gegenwart, und dazu als eine Entwicklung, die am ehesten einen dauernden Frieden auf der festen Grundlage des Interimperialismus erhoffen lässt.“(117)

Kautsky hat also Ultraimperialismus oder Überimperialismus das genannt, was Hobson 13 Jahre früher Interimperialsmus oder Zwischenimperialismus nannte. Ausser der Erfindung eines neuen hochgelahrten Wörtchens mittels Ersetzung einer lateinischen Vorsilbe durch eine andere besteht der Fortschritt des „wissenschaftlichen“ Denken bei Kautsky nur in der Anmassung, etwas als Marxismus auszugeben, was Hobson im Grunde genommen als Heuchelei englischer Pfaffen bezeichnet. Nach dem Burenkrieg war es für diesen hochehrwürdigen Stand ganz natürlich, seine Bemühungen hauptsächlich auf die Vertröstung der englischen Kleinbürger und Arbeiter zu richten, die in den südafrikanischen Schlachten nicht wenige Tote verloren hatten und die Sicherung der erhöhten Profite der englischen Finanzleute mit erhöhten Steuern bezahlen mussten. Und welche Vertröstung hätte besser sein können als die, dass der Imperialismus gar nicht so schlimm sei, dass er sich dem Inter- (oder Ultra-)imperialismus nähere, der dauernden Frieden zu gewährleisten imstande sei? Was immer auch die wohlgemeinten Absichten der englischen Pfaffen oder des süsslichen Kautsky sein mögen, der objektive, d.h. wirkliche soziale Sinn seiner „Theorie“ ist einzig und allein der: eine höchst reaktionäre Vertröstung der Massen auf die Möglichkeit eines dauernden Friedens im Kapitalismus, indem man die Aufmerksamkeit von den akuten Widersprüchen und akuten Problemen der Gegenwart ablenkt auf die verlogenen Perspektiven irgendeines angeblich neuen künftigen „Ultraimperialismus“. Betrug an den Massen und sonst absolut nichts ist der Inhalt von Kautskys „marxistischer“ Theorie.

In der Tat, es genügt, allgemein bekannte, unbestreitbare Tatsachen einander gegenüberzustellen, um sich davon zu überzeugen, wie verlogen die Perspektiven sind, die Kautsky den deutschen Arbeitern (und den Arbeitern aller Länder) weiszumachen sucht. Man nehme Indien, Indochina und China. Bekanntlich werden diese drei kolonialen und halbkolonialen Länder mit einer Bevölkerung von 600-700 Millionen Menschen vom Finanzkapital einiger imperialistischer Mächte – Englands, Frankreichs, Japans, der Vereinigten Staaten usw. – ausgebeutet. Angenommen, diese imperialistischen Staaten schlössen Bündnisse, ein Bündnis gegen ein anderes, um ihren Besitz, ihre Interessen und „Einflusssphären“ in den genannten asiatischen Staaten zu behaupten oder auszudehnen. Das wären „interimperialistische“ oder „ultraimperialistische“ Bündnisse. Angenommen, sämtliche imperialistischen Mächte schlössen ein Bündnis zur „friedlichen“ Aufteilung der genannten asiatischen Länder – das wäre ein „international verbündetes Finanzkapital“. Es gibt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts faktische Beispiele eines derartigen Bündnisses, z.B. im Verhalten der Mächte zu China. Es fragt sich nun, ist die Annahme „denkbar“, dass beim Fortbestehen des Kapitalismus (und diese Bedingung setzt Kautsky gerade voraus) solche Bündnisse nicht kurzlebig wären, dass sie Reibungen, Konflikte und Kampf in jedweden und allen möglichen Formen ausschliessen würden?

Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sie nicht anders als mit Nein zu beantworten. Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflusssphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmässig, denn eine gleichmässige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen. Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen Englands vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Russland. Ist die Annahme „denkbar“, dass das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig Jahren unverändert geblieben sein wird? Das ist absolut undenkbar.

„Interimperialistische“ oder „ultraimperialistische“ Bündnisse sind daher in der kapitalistischen Wirklichkeit, und nicht in der banalen Spiesserphantasie englischer Pfaffen oder des deutschen „Marxisten“ Kautsky, notwendigerweise nur „Atempausen“ zwischen Kriegen – gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in der Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik. Der neunmalweise Kautsky aber trennt, um die Arbeiter zu beschwichtigen und sie mit den zur Bourgeoisie übergegangenen Sozialchauvinisten auszusöhnen, ein Glied der einheitlichen Kette von dem anderen, trennt das heutige friedliche (und ultraimperialistische, ja sogar ultra-ultraimperialistische) Bündnis aller Mächte zur „Befriedung“ Chinas (man denke an die Niederwerfung des Boxeraufstands) von dem morgigen nicht friedlichen Konflikt, der übermorgen wiederum ein „friedliches“ allgemeines Bündnis zur Aufteilung, sagen wir, der Türkei vorbereitet, usw. usf. Statt des lebendigen Zusammenhangs zwischen den Perioden des imperialistischen Friedens und den Perioden imperialistischer Kriege präsentiert Kautsky den Arbeitern eine tote Abstraktion, um sie mit ihren töten Führern auszusöhnen.

Der Amerikaner Hill unterscheidet in dem Vorwort zu seiner „Geschichte der Diplomatie in der internationalen Entwicklung Europas“ folgende Perioden der neueren Geschichte der Diplomatie 1. Ära der Revolution; 2. der konstitutionellen Bewegung; 3. Ära des „Handelsimperialismus“ (118) unserer Tage. Ein anderer Autor teilt die Geschichte der „Weltpolitik“ Grossbritanniens seit 1870 in 4 Perioden ein, und zwar: 1. die erste asiatische (Kampf gegen Russlands Vordringen in Zentralasien in Richtung nach Indien); 2. die afrikanische (etwa 1885-1902) – Kampf gegen Frankreich wegen der Aufteilung Afrikas („Faschoda“ 1898 – um Haaresbreite Krieg mit Frankreich); 3. die zweite asiatische (Vertrag mit Japan gegen Russland) und 4. die „europäische“ hauptsächlich gegen Deutschland gerichtet. (119) „Die politischen Vorpostengefechte werden auf finanziellem Boden geschlagen“, schrieb schon 1905 der „Bankmann“ Riesser und wies darauf hin, wie das französische Finanzkapital durch seine Transaktionen in Italien das politische Bündnis dieser beiden Länder vorbereitete und wie sich der Kampf zwischen England und Deutschland um Persien sowie der Kampf aller europäischen Kapitale um die chinesischen Anleihen usw. entfaltete. Das ist die lebendige Wirklichkeit der „ultraimperialistischen“ friedlichen Bündnisse in ihrem untrennbaren Zusammenhang mit den gewöhnlichen imperialistischen Konflikten.

Kautskys Vertuschung der tiefsten Widersprüche des Imperialismus, woraus unvermeidlich eine Beschönigung des Imperialismus wird, hinterlässt ihre Spuren auch in seiner Kritik der politischen Eigenschaften des Imperialismus. Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äusserste Zuspitzung der Gegensätze auch auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenz. Insbesondere verschärfen sich auch die nationale Unterdrückung und der Drang nach Annexionen, d.h. nach Verletzung der nationalen Unabhängigkeit (denn Annexion ist ja nichts anderes als Verletzung der Selbstbestimmung der Nationen). Mit Recht hebt Hilferding den Zusammenhang des Imperialismus mit der Verschärfung der nationalen Unterdrückung hervor. „In den neu erschlossenen Ländern selbst aber“, schreibt er, „steigert der importierte Kapitalismus die Gegensätze und erregt den immer wachsenden Widerstand der zu nationalem Bewusstsein erwachenden Völker gegen die Eindringlinge, der sich leicht zu gefährlichen Massnahmen gegen das Fremdkapital steigern kann. Die alten sozialen Verhältnisse werden völlig revolutioniert, die agrarische, tausendjährige Gebundenheit der ‚geschichtslosen Nationen‘ gesprengt, diese selbst in den kapitalistischen Strudel hineingezogen. Der Kapitalismus selbst gibt den Unterworfenen allmählich die Mittel und Wege zu ihrer Befreiung. Das Ziel, das einst das höchste der europäischen Nationen war, die Herstellung des nationalen Einheitsstaates als Mittel der ökonomischen und kulturellen Freiheit, wird auch zu dem ihren. Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten.“(120)

Es muss hinzugefügt werden, dass der Imperialismus nicht allein in den neu erschlossenen, sondern auch in den alten Ländern zu Annexionen, zur Verstärkung der nationalen Unterdrückung und folglich auch zur Verschärfung des Widerstands führt. Kautsky wendet sich gegen die Verstärkung der politischen Reaktion durch den Imperialismus, lässt aber die besonders akut gewordene Frage, dass in der Epoche des Imperialismus eine Einheit mit den Opportunisten unmöglich ist, im dunkeln. Er wendet sich gegen Annexionen, kleidet aber seine Einwände in eine Form, die für die Opportunisten am unverfänglichsten und am ehesten annehmbar ist. Obwohl er sich unmittelbar an das deutsche Publikum wendet, vertuscht er dennoch gerade das Wichtigste und Aktuellste, beispielsweise die Tatsache, dass Elsass-Lothringen eine Annexion Deutschlands darstellt. Zur Kennzeichnung dieser „Gedankenrichtung“ Kautskys sei hier ein Beispiel angeführt. Angenommen, ein Japaner verurteilt die Annexion der Philippinen durch die Amerikaner. Es fragt sich nun: Werden viele daran glauben, dass er dies aus Abscheu vor Annexionen überhaupt tut und nicht etwa von dem Wunsch geleitet, die Philippinen selber zu annektieren? Und wird man nicht zugeben müssen, dass man den „Kampf“ des Japaners gegen Annexionen nur und nur dann für aufrichtig und politisch ehrlich halten kann, wenn er sich gegen die Annexion Koreas durch Japan wendet und für Korea die Freiheit der Lostrennung von Japan fordert?

Sowohl Kautskys theoretische Analyse des Imperialismus wie auch seine ökonomische und politische Kritik des Imperialismus sind völlig von einem mit dem Marxismus absolut nicht zu vereinbarenden Geist der Vertuschung und Verwischung der grundlegenden Gegensätze durchdrungen, von dem Bestreben, die zerfallende Einheit mit dem Opportunismus in der europäischen Arbeiterbewegung um jeden Preis aufrechtzuerhalten.

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(110) „Weltwirtschaftliches Archiv“, Bd. II, S. 193 ff.

(111) J. Patouillet, “ L’impérialisme américain“, Dijon 1904, S. 272.

(112) „Bulletin de l’Institut international de Statistique“, t. XIX, livr. II, p. 225.

(113) Kautsky, „Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund“, Nürnberg 1915, S. 72 und 70.

(114) „Das Finanzkapital“, S. 567.

(115) „Die Bank“, 1909, 2, S. 819 ff.

(116) „Die Neue Zeit“, 30. April 1915, 144.

(117) Hobson, „Imperialism“, London 1902, S. 351.

(118) David Jayne Hill, „A History of Diplomacy in the International Development of Europe“, vol. I, p. X.

(119) Schilder, a.a.O., S. 178.

(120) „Das Finanzkapital“, S. 457.

 

 

X. Der Platz des Imperialismus in der Geschichte

Wir haben gesehen, dass der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation. Es sind insbesondere vier Hauptarten der Monopole oder Haupterscheinungsformen des Monopolkapitalismus hervorzuheben, die für die in Betracht kommende Epoche charakteristisch sind.

Erstens: Das Monopol ist aus der Konzentration der Produktion auf einer sehr hohen Stute ihrer Entwicklung erwachsen. Das sind die Monopolverbände der Kapitalisten, die Kartelle. Syndikate und Trusts. Wir sahen, welch gewaltige Rolle sie im heutigen Wirtschaftsleben spielen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewannen sie in den fortgeschrittenen Ländern das völlige Übergewicht, und wenn die ersten Schritte auf dem Wege der Kartellierung zuerst von Ländern mit hohen Schutzzöllen (Deutschland, Amerika) getan wurden, so hat England mit seinem Freihandelssystem nur wenig später dieselbe grundlegende Tatsache aufzuweisen: die Entstehung der Monopole aus der Konzentration der Produktion.

Zweitens: Die Monopole haben in verstärktem Masse zur Besitzergreifung der wichtigsten Rohstoffquellen geführt, besonders in der ausschlaggebenden und am meisten kartellierten Industrie der kapitalistischen Gesellschaft: der Kohlen- und Eisenindustrie. Die monopolistische Beherrschung der wichtigsten Rohstoffquellen hat die Macht des Grosskapitals ungeheuer gesteigert und den Gegensatz zwischen der kartellierten und nichtkartellierten Industrie verschärft.

Drittens: Das Monopol ist aus den Banken erwachsen. Diese haben sich aus bescheidenen Vermittlungsunternehmungen zu Monopolisten des Finanzkapitals gewandelt. Drei bis fünf Grossbanken einer beliebigen der kapitalistisch fortgeschrittensten Nationen haben zwischen Industrie- und Bankkapital eine „Personalunion“ hergestellt und in ihrer Hand die Verfügungsgewalt über Milliarden und aber Milliarden konzentriert, die den grössten Teil der Kapitalien und der Geldeinkünfte des ganzen Landes ausmachen. Eine Finanzoligarchie, die ein dichtes Netz von Abhängigkeitsverhältnissen über ausnahmslos alle ökonomischen und politischen Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft spannt – das ist die krasseste Erscheinungsform dieses Monopols.

Viertens: Das Monopol ist aus der Kolonialpolitik erwachsen. Den zahlreichen „alten“ Motiven der Kolonialpolitik fügte das Finanzkapital noch den Kampf um Rohstoffquellen hinzu, um Kapitalexport, um „Einflusssphären“ d.h. um Sphären für gewinnbringende Geschäfte, Konzessionen, Monopolprofite usw. – und schliesslich um das Wirtschaftsgebiet überhaupt. Als z.B. die europäischen Mächte mit ihren Kolonien erst den zehnten Teil von Afrika besetzt hatten, wie es noch 1876 der Fall war, da konnte sich die Kolonialpolitik auf nichtmonopolistische Weise entfalten, in der Art einer sozusagen „freibeuterischen“ Besetzung des Landes. Als aber neun Zehntel Afrikas bereits besetzt waren (gegen 1900), als die ganze Welt verteilt war, da begann unvermeidlich die Ära des monopolistischen Kolonialbesitzes und folglich auch eines besonders verschärften Kampfes um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt.

Wie sehr der monopolistische Kapitalismus alle Widersprüche des Kapitalismus verschärft hat, ist allgemein bekannt. Es genügt, auf die Teuerung und auf den Druck der Kartelle hinzuweisen. Diese Verschärfung der Gegensätze ist die mächtigste Triebkraft der geschichtlichen Übergangsperiode, die mit dem endgültigen Sieg des internationalen Finanzkapitals ihren Anfang genommen hat.

Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer grösseren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen. Immer plastischer tritt als eine Tendenz des Imperialismus die Bildung des „Rentnerstaates“, des Wucherstaates hervor, dessen Bourgeoisie in steigendem Masse von Kapitalexport und „Kuponschneiden“ lebt. Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass diese Fäulnistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschliesst; durchaus nicht, einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenzen. Im grossen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmässiger, sondern die Ungleichmässigkeit äussert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder (England).

Über die Schnelligkeit der ökonomischen Entwicklung Deutschlands sagt Riesser, der Verfasser des Werkes über die deutschen Grossbanken: „Der nicht gerade langsame Fortschritt der vorigen Epoche (1848-1870) verhält sich zu der Schnelligkeit, mit der Deutschlands Gesamtwirtschaft und mit ihr das deutsche Bankwesen in dieser Periode (1870-1905) vorwärtskam, etwa so, wie das Tempo der Postkutsche des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu dem Fluge des heutigen Automobils, dessen … Dahinsausen allerdings auch manchmal sowohl den harmlos dahinziehenden Fussgänger wie die Insassen selbst gefährdet.“ Seinerseits hätte dieses ungewöhnlich schnell gewachsene Finanzkapital gerade deshalb, weil es so schnell gewachsen ist, nichts dagegen, zu einem „ruhigeren“ Besitz der Kolonien überzugehen, die den reicheren Nationen, und zwar nicht nur mit friedlichen Mitteln, entrissen werden können. In den Vereinigten Staaten ging die ökonomische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten noch rascher vor sich als in Deutschland, und gerade dank diesem Umstand kamen die parasitären Züge des jüngsten amerikanischen Kapitalismus besonders krass zum Vorschein. Anderseits zeigt ein Vergleich, sagen wir, der republikanischen amerikanischen Bourgeoisie mit der monarchistischen japanischen oder deutschen, dass auch der stärkste politische Unterschied in der Epoche des Imperialismus in hohem Grade abgeschwächt wird – nicht etwa, weil er überhaupt unwichtig wäre, sondern weil es sich in allen diesen Fallen um eine Bourgeoisie mit ausgesprochen parasitären Zügen handelt.

Dadurch, dass die Kapitalisten eines Industriezweiges unter vielen anderen oder eines Landes unter vielen anderen usw. hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen und sie auf die Seite der Bourgeoisie des betreffenden Industriezweiges oder der betreffenden Nation gegen alle übrigen hinüberzuziehen. Diese Tendenz wird durch den verschärften Antagonismus zwischen den imperialistischen Nationen wegen der Aufteilung der Welt noch verstärkt. So entsteht der Zusammenhang von Imperialismus und Opportunismus, der sich am frühesten und krassesten in England auswirkte, weil dort gewisse imperialistische Züge der Entwicklung bedeutend früher als in anderen Ländern zutage traten. Manche Schriftsteller, z.B. L. Martow, möchten sich über die Tatsache, dass Imperialismus und Opportunismus in der Arbeiterbewegung zusammenhängen – eine Tatsache, die jetzt ganz besonders in die Augen springt -, gern hinwegsetzen, und zwar mit dem „amtlichen Optimismus“ (im Geiste Kautskys und Huymans‘) von Betrachtungen folgender Art: Die Sache der Gegner des Kapitalismus wäre hoffnungslos, wenn gerade der fortgeschrittene Kapitalismus zur Verstärkung des Opportunismus führte oder wenn gerade die bestbezahlten Arbeiter zum Opportunismus neigten u.dgl.m. Man darf sich über die Bedeutung eines solchen „Optimismus“ nicht täuschen. Es ist ein Optimismus hinsichtlich des Opportunismus, es ist ein Optimismus, der der Verhüllung des Opportunismus dient. In Wirklichkeit ist die besonders schnelle und besonders widerwärtige Entwicklung des Opportunismus keineswegs eine Garantie für seinen dauernden Sieg, wie auch die schnelle Entwicklung eines bösartigen Geschwürs an einem gesunden Organismus nur das Aufbrechen des Geschwürs, die Befreiung des Organismus von diesem beschleunigen kann. Am gefährlichsten sind in dieser Hinsicht Leute, die nicht verstehen wollen, dass der Kampf gegen den Imperialismus eine hohle, verlogene Phrase ist, wenn er nicht unlöslich verknüpft ist mit dem Kampf gegen den Opportunismus.

Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, dass er charakterisiert werden muss als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus. Höchst aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, dass die Schlagworte der bürgerlichen Ökonomen, die den jüngsten Kapitalismus beschreiben, „Verflechtung“, „Fehlen der Isoliertheit“ usw. heissen; die Banken seien „Unternehmungen, die nach ihren Aufgaben und nach ihrer Entwicklung nicht einen rein privatwirtschaftlichen Charakter haben und die immer mehr aus der Sphäre der rein privatrechtlichen Regelung herauswachsen“. Und derselbe Riesser, von dem diese Worte stammen, erklärt mit todernster Miene, dass sich die „Voraussage“ der Marxisten über die „Vergesellschaftung“ „nicht verwirklicht“ habe!

Was bedeutet denn dieses Wörtchen „Verflechtung“? Es erfasst bloss einen einzelnen, wenn auch den auffallendsten Zug des Prozesses, der sich vor unseren Augen abspielt. Es zeigt, dass der Beobachter einzelne Bäume aufzählt, aber den Wald nicht sieht. Es kopiert sklavisch das Äussere, Zufällige, Chaotische. Es verrät uns in dem Beobachter einen Menschen, der von dem unverarbeiteten Material erdrückt wird und sich in dessen Sinn und Bedeutung absolut nicht zurechtfindet. „Zufällig verflechten sich“ Aktienbesitz und Privateigentümerverhältnisse. Aber das, was dieser Verflechtung zugrunde liegt, was ihre Grundlage bildet, sind die sich verändernden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Wenn aus einem Grossbetrieb ein Mammutbetrieb wird, der planmässig, auf Grund genau errechneter Massendaten, die Lieferung des ursprünglichen Rohmaterials im Umfang von zwei Dritteln oder drei Vierteln des gesamten Bedarfs für Dutzende von Millionen der Bevölkerung organisiert; wenn die Beförderung dieses Rohstoffs nach den geeignetsten Produktionsstätten, die mitunter Hunderte und Tausende Meilen voneinander entfernt sind, systematisch organisiert wird; wenn von einer Zentralstelle aus alle aufeinanderfolgenden Stadien der Verarbeitung des Materials bis zur Herstellung der verschiedenartigsten Fertigprodukte geregelt werden; wenn die Verteilung dieser Produkte auf Dutzende und Hunderte von Millionen Konsumenten nach einem einzigen Plan geschieht (Petroleumabsatz in Amerika wie in Deutschland durch den amerikanischen „Petroleumtrust“) – dann wird es offensichtlich, dass wir es mit einer Vergesellschaftung der Produktion zu tun haben und durchaus nicht mit einer blossen „Verflechtung“; dass privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muss, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismässig lange in diesem Fäulniszustand halten kann (wenn schlimmstenfalls die Gesundung von dem opportunistischen Geschwür auf sich warten lassen sollte), die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird.

Schulze-Gaevernitz, ein begeisterter Anhänger des deutschen Imperialismus, ruft aus:

„Ist die letzte Leitung der deutschen Bankwelt einem Dutzend von Männern anvertraut, so ist deren Tätigkeit schon heute für das Volkswohl bedeutsamer als die der meisten Staatsminister“ (die „Verflechtung“ der Bankiers, Minister, Industriellen und Rentner vergisst man hier lieber …). „Denken wir uns die aufgewiesenen Entwicklungstendenzen bis zum letzten erreicht: das Geldkapital der Nation in den Banken vereinigt, diese selbst kartellmässig verbunden, das Anlagekapital der Nation in Effektenform gegossen. Dann verwirklicht sich das geniale Wort Saint-Simons: ‚Die heutige Anarchie in der Produktion, die der Tatsache entspringt, dass sich die ökonomischen Beziehungen ohne einheitliche Regelung abwickeln, muss einer Organisation der Produktion weichen. Es werden nicht mehr isolierte Unternehmer sein, die unabhängig voneinander, ohne Kenntnis der ökonomischen Bedürfnisse des Menschen, die Produktionsgestaltung bewirken, sondern diese wird einer sozialen Institution zufallen. Eine zentrale Verwaltungsbehörde, die von erhöhtem Standpunkt aus das weite Gebiet der sozialen Ökonomie zu überblicken vermag, wird diese in einer der Gesamtheit dienlichen Weise regulieren und die Produktionsmittel den geeigneten Händen überweisen, namentlich wird sie für eine ständige Harmonie zwischen Produktion und Konsumtion sorgen. Es gibt Institutionen, die eine gewisse Organisation der wirtschaftlichen Arbeit in ihren Aufgabenkreis einbezogen haben: die Banken.‘ Noch sind wir von der Verwirklichung diese Wortes entfernt, aber wir befinden uns auf dem Wege zu seiner Verwirklichung – Marxismus anders, und doch nur in der Form anders, als Marx sich ihn dachte!“(121)

Man muss schon sagen: Eine schöne „Widerlegung“ von Marx, die einen Schritt rückwärts macht von der exakten wissenschaftlichen Analyse Marx‘ zur Vorahnung Saint-Simons, die zwar genial, aber doch nur eine Vorahnung war.

Fussnoten von Wladimir Iljitsch Lenin

(121) „Grundriss der Sozialökonomik“, S. 146.