Versuch es (Wolfgang Borchert)

Stell dich mitten in den Regen,
glaub an seinen Tropfensegen
spinn dich in das Rauschen ein
und versuche gut zu sein!

Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und sei ein Kind –
laß den Sturm in dich hinein
und versuche gut zu sein.

Stell dich mitten in das Feuer,
liebe dieses Ungeheuer
in des Herzens rotem Wein –
und versuche gut zu sein!

Interpretation

„Nur wer erwachsen wird und trotzdem ein Kind bleibt, ist ein Mensch“

Ich stelle mich in den Regen. Mitten hinein. Das ist eigentlich nicht üblich. Normalerweise schützen wir uns vor dem Regen. Wir ziehen den Regenschutz an, spannen einen Schirm auf, suchen eine regengeschützte Stelle oder ziehen uns zurück in ein trockenes Haus.
Aber nein: ich stelle mich ungeschützt in den Regen hinein.

Ich glaube an den Segen des Regens. Inwiefern ist der Regen ein Segen? Das Wasser aus den Wolken bewässert unsere Felder, lässt Früchte und Gemüse wachsen, tränkt uns und die Tiere und liefert uns das Wasser, welches wir trinken und für Hygiene und für die täglichen Arbeiten verwenden. Ja, es ist ein Segen, dieses Wasser!

Wenn ich ungeschützt im Regen stehe, höre ich das Rauschen der Regentropfen. Ich verbinde mich so sehr in den Regen und seinen Klang, dass ich mit Träumen beginne. Der Klang des Regens trägt mich fort. Ich geniesse das Nass wie ein kleines Kind die Pfützen.

Ich stehe im Wind. Ich nehme ihn ernst, schütze mich nicht davor. Gefällt es mir? Kann ich es geniessen? Kann ich dieses Chaotische, Windige, Stürmische in mich hineinlassen? Halte ich das aus? Ich versuche, wie ein Kind dies einfach zuzulassen.
Macht mich das gut? Oder versuche ich dabei trotzdem gut zu sein?

Mitten im Feuer soll ich mich stellen. Verbrenne ich denn da nicht?
Was braucht es, dass ich auch diese gefährliche, zerstörende Kraft lieben und annehmen kann? Muss ich die guten, vorteilhaften Eigenschaften des Feuers einfach ernst nehmen? Zum Beispiel, dass auch das Sonnenfeuer ein Feuer ist – hier spätestens merken wir, dass Borchert nicht meint, dass wir uns in ein Lagerfeuer stellen sollen und uns verletzen sollen – die Sonne wärmt und leuchtet und bringt damit den Wein hervor.
Was ist wohl des Herzens roter Wein? Ist es unser Blut? Sind es unsere Gefühle?
Ich stelle mich meinen Gefühlen und das macht mich gut. Oder damit habe ich ein Mittel, dass es leichter wird, gut zu sein?