Die Wurst

Friedrich Dürrenmatt, Winter 1943

Ein Mensch erschlug seine Frau und verwurstete sie. Die Tat wurde ruchbar. Der Mensch wurde verhaftet. Eine Wurst wurde noch gefunden. Die Empörung war gross. Der höchste Richter des Landes übernahm den Fall.

Der Gerichtssaal ist hell. Durch die Fenster stürzt die Sonne. Die Wände sind grelle Spiegel. Die Menschen sind eine brodelnde Masse. Sie füllen den Saal. Sie sitzen auf den Fenstersimsen. Sie hängen an den Kronleuchtern. Die Glatze des Staatsanwalts brennt rechts. Sie ist rot. Der Verteidiger ist links. Seine Brille sind blinde Scheiben. Der Angeklagte sitzt in der Mitte zwischen zwei Polizisten. Seine Hände sind gross. Die Finger haben blaue Ränder. Über allen thront der höchste Richter. Seine Robe ist schwarz. Sein Bart ist eine weisse Fahne. Seine Augen ernst. Seine Stirne Klarheit. Seine Brauen Zorn. Sein Antlitz Menschlichkeit. Vor ihm die Wurst. Sie liegt auf einem Teller. Über dem höchsten Richter thront die Gerechtigkeit. Ihre Augen sind verbunden. In der rechten Hand hält sie ein Schwert. In der linken eine Waage. Sie ist aus Stein. Der höchste Richter hebt die Hand. Die Menschen schweigen. Die Bewegung erstarrt. Der Saal ruht. Die Zeit lauert. Der Staatsanwalt steht auf. Sein Bauch ist eine Erdkugel. Seine Lippen sind eine Guillotine. Seine Zunge ist ein Fallbeil. Die Worte hämmern in den Saal. Der Angeklagte zuckt zusammen. Der Richter horcht. Zwischen den Brauen steht eine steile Falte. Seine Augen sind wie Sonnen. Ihre Strahlen treffen den Angeklagten. Der sinkt zusammen. Seine Knie schlottern. Seine Hände beten. Seine Zunge hängt. Seine Ohren stehen ab. Die Wurst vor dem höchsten Richter ist rot. Sie ist still. Sie schwillt. Die Enden sind rund. Die Schnur am Zipfel ist gelb. Sie ruht. Der höchste Richter sieht auf den niedrigsten Menschen hinab. Der ist klein. Seine Haut ist wie Leder. Sein Mund ist ein Schnabel. Seine Lippen getrocknetes Blut. Seine Augen Stecknadelköpfe. Seine Stirne flach. Seine Finger dick. Die Wurst riecht angenehm. Sie rückt näher. Die Haut ist rau. Die Wurst ist weich. Sie ist hart. Der Nagel hinterlässt eine halbmondartige Spur. Die Wurst ist warm. Ihre Form ist mollig. Der Staatsanwalt schweigt. Der Angeklagte hebt den Kopf. Sein Blick ist ein gemartertes Kind. Der höchste Richter hebt die Hand. Der Verteidiger schnellt auf. Die Brille tanzt. Worte springen in den Saal. Die Wurst dampft. Der Dampf ist warm. Ein Messerchen klappt. Die Wurst spritzt. Der Verteidiger schweigt. Der höchste Richter sieht den Angeklagten. Der ist weit unten. Er ist ein Floh. Der höchste Richter schüttelt den Kopf. Sein Blick ist Verachtung. Der höchste Richter beginnt zu sprechen. Seine Worte sind Schwerter der Gerechtigkeit. Sie fallen wie Berge auf den Angeklagten. Seine Sätze sind Stricke. Sie geisseln. Sie würgen. Sie töten. Das Fleisch ist zart. Es ist süss. Es zergeht wie Butter. Die Haut ist etwas zäher. Die Wände dröhnen. Die Decke ballt die Fäuste. Die Fenster knirschen. Die Türen rütteln an den Angeln. Die Mauern stampfen mit den Füssen. Die Stadt erbleicht. Die Wälder verdorren. Die Wasser verdampfen. Die Erde bebt. Die Sonne stirbt. Der Himmel fällt zusammen. Der Angeklagte wird verdammt. Der Tod öffnet sein Maul. Das Messerchen legt sich auf den Tisch. Die Finger sind klebrig. Sie fahren über die schwarze Robe. Der höchste Richter schweigt. Der Saal ist tot. Die Luft ist schwer. Die Lungen sind voll Blei. Die Menschen zittern. Der Angeklagte klebt am Stuhl. Er ist verdammt. Er darf eine letzte Bitte tun. Er kauert. Die Bitte kriecht aus seinem Hirn. Sie ist klein. Sie wächst. Sie wird ein Riese. Sie ballt sich. Sie formt sich. Sie zwängt die Lippen auseinander. Sie stösst in den Gerichtssaal. Sie klingt. Den Rest seiner armen Frau möchte der perverse Lustmörder essen: die Wurst. Der Abscheu schreit auf. Der höchste Richter hebt die Hand. Die Menschen verstummen. Der höchste Richter ist wie Gott. Seine Stimme ist die letzte Posaune. Er gewährt die Bitte. Der Verdammte darf die Wurst essen. Der höchste Richter sieht auf den Teller. Die Wurst ist weg. Er schweigt. Die Stille ist dumpf. Die Menschen schauen den höchsten Richter an. Die Augen des Verdammten sind gross. In ihnen steht eine Frage. Die Frage ist entsetzlich. Sie strömt in den Saal. Sie senkt sich auf den Boden. Klammert sich an die Wände. Hockt oben an der Decke. Nimmt Besitz von jedem Menschen. Der Saal weitet sich. Die Welt wird ein ungeheures Fragezeichen.