Inhaltsverzeichnis Gedichte
Babij Jar
Stalins Erben
Russland, mein Land
Uninteressante Menschen gibt es nicht
Brautwerbung, sibirisch
In Russland zählt ein Dichter doppelt
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Biografische Notizen
Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko (Евгений Александрович Евтушенко, Yevgeny Alexandrovich Yevtushenko) wurde 1932 in Nischneudinsk oder Sima, Sibirien geboren. Seine Eltern waren beide Geologen. Der deutschstämmige Vater, Alexander Rudolfowitsch Gangnus, dichtete selbst und brachte ihm die Liebe zur Poesie bei. Der Grossvater Rudolf Gangnus war Mathematiker.
Um Komplikationen aus dem Weg zu gehen, nahm er den Geburtsnamen seiner Mutter an, der des Vaters klang zu wenig slawisch. Zudem wurde sein Geburtsdatum auf 1933 geändert, damit die Familie nach Moskau ziehen konnte.
In der Schule fiel Jewgeni durch Schwänzen und Aufsässigkeit negativ auf. Wegen einer falschen Beschuldigung wurde er als 15-Jähriger vor seinem Schulabschluss von der Schule verwiesen.
Er arbeitete zuerst in einer Kolchose, dann in einem Sägewerk. Später nahm er mit dem Vater an geologischen Expeditionen in Kasachstan und dem Altai teil.
Dann aber wandte er sich seiner eigentlichen Leidenschaft zu, dem Dichten und er zog zurück nach Moskau. Zuerst schrieb er Gedichte für Zeitungen. 1952 erschien sein erster Gedichtband Kundschafter der Zukunft, der von der Kritik gelobt wurde. Das Publikum aber nahm ihn noch kaum wahr. Auch ohne Schulabschluss wurde er in den Schriftstellerverband und an das Maxim-Gorki-Literaturinstitut aufgenommen, doch eine positive Kritik des Romans Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Не хлебом единым) von Wladimir Dudinzew erregte er den Unwillen im Maxim-Gorki-Literaturinstitut und wurde dort entlassen.
Den Durchbruch beim Publikum erreichte er 1961 mit den beiden Gedichten Babi Jar (Бабий Яр), und Meinst Du, die Russen wollen Krieg? (Хотят ли русские войны?).
Gedichte
Babij Jar
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang—der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch: die Spuren der Nägel.
Dreyfus, auch er, das bin ich.
Der Spiesser denunziert mich,
der Philister spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich. Umstellt.
Müdgehetzt. Und bespien. Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen
und stechen mir im Gesicht mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt, ein kleiner Junge in Bialistok.
Das Blut fliesst über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lauen sich gehn.
Ein Tritt mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe — umsonst.
«Hau den Juden, rette Russland!»
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Mein russisches Volk! Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiss.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde — ich kenne sie, de ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die niederträchtigen, dass
sie grosstun mit diesem Namen: »Bund des russischen Volks»!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-durchwoben, ein Zweig im April.
Ich liebe Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche: dass du mich anschaust, dass ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch, wenig Greifbares!
Die Blätter — verboten. Der Himmel — verboten.
Aber einander umarmen, leise, den dürfen, das können wir noch.
Sie kommen? Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher. Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie reinen die Tür ein? Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draussen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, du Gras.
Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde grau.
Und bin—bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und abertausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis – : ich.
Jedes hier erschossene Kind – :
Nichts, keine Faser in mir, vergisst das je!
Die Internationale — ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhasst bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Hass,
so hassen sie mich – wie einen Juden.
Und deshalb bin ich ein wirklicher Russe.
(Babij Jar ist ein Ort bei Kiew, an dem im September 1941 über siebzigtausend Juden von der SS ermordet wurden.)
Stalins Erben
Schweigend: der Marmor
Schweigend: das glitzernde Glas.
Schweigend: zu Bronze geronnen
die Wache im Wind.
Aber vom Sarge stieg auf ein geringer Rauch,
Atem, der durch seine schmalen Ritzen gelangt war,
als man ihn durch die Tür des Mausoleums hinaustrug.
Mit seinen Kanten
die Bajonette streifend schwamm er Langsam vorüber.
Schweigend
auch er!
Schweigend! Aber dahinter ein Drohen.
Drohend
dahinter
düster mit einbalsamierten Fäusten
der sich nur totgestellt hatte, der da
jetzt sein Gesicht an die Ritze presste,
sich einzuprägen alle,
die ihn hinausbeförderten,
junge Rekruten aus Rjasanj und Kursk.
Der hatte schon seinen Plan.
Nur ausruhen würde er.
Nicht Ruhe geben wollte er.
In seine Kiste gekauert
nur warten,
bis seine Kräfte ihm endlich erlaubten,
den Sarg zu sprengen,
das Grab zu verlassen
und jene Unwürdigen dort zu erreichen,
die ihn vergruben in Unvernunft.
Ich aber wende mich an die Regierung mit Sorge,
weist meine Bitte nicht ab:
Verdoppelt die Wachen,
verdreifacht sie
vor diesem Grab!
Damit Stalin für immer darinnen bleibt.
Und mit ihm, was vergangen sein soll.
Und ich meine, fürwahr, unsre ruhmvolle nicht,
unsre gute Vergangenheit.
Nicht Turksib,
nicht Magnitka,
nicht die Fahne über Berlin,
ich meine aber eine Zeit,
wo das Allgemeinwohl für nichts galt,
wo die Verleumdung in Blüte stand,
wo man die Unschuld in Haft nahm.
Das waren doch ehrliche Leute,
die da säten,
Metall kochten,
marschierten,
in Sehützenketten sich einreihten,
und die er dennoch
misstrauisch fürchtete.
Stets nur die grossen Pläne vor Augen, verlor er
den Blick für die Würde der Mittel,
die angemessen sein müssen dem Ziel,
dem weit gesteckten.
Ja, weitsichtig w er gewiss!
Und in den Listen des Kampfes mehr als gewitzigt,
hat er dem Erdball
noch Erben die Menge vererbt.
Ich glaube sogar, dass sein Grab
Telephonanschluss hat.
Enver Hodscha empfängt von hier aus seine Befehle.
Und wer sonst hängt wohl noch an dem Draht?
Nein — ergeben hat Stalin sich nicht,
und Totes, so glaubt er, sei reparabel.
Sicher, wir haben ihn
aus dem Mausoleum
glücklich herausgebracht.
Wer aber
expediert Stalin nun
aus den Herzen der Erben?
Da gibt es doch einige, die
im Ruhestand Rosen beschneiden und glauben im Stillen,
das sei Ruhstand auf Abruf.
Andere,
hoch von Tribünen aus
Stalin verwünschend,
dieselben sind’s,
die sich nachts gern des Alten erinnern.
Ist es Zufall nur
frage ich,
dass, von Infarkten gefällt,
diese Stützen des Einst
heut schon bröckeln?
Oder ist’s, weil sie nicht mehr gewachsen sind
einer Zeit
der leeren Lager,
der vollen Säle,
überquellend von Menschen,
die Verse zu hören gekommen sind?
Doch nicht Ruhe
befahl
die Partei mir.
Und wenn da mal wieder wer kommt und mir sagt: «Gib schon Ruh da. Lass gut sein.»
Ich kann es nicht. Weil ich weiss, dass Stalin noch immer ein Mausoleum besitzt.
solang seine Erben unter uns umgehe auf Erden.
Russland, mein Land
Welch Kraft gewaltig, ohnegleichen,
welch Leidenschaft vermessner Art,
liess Berge, Sterne mich erreichen,
hat mich vor Sturz und Tod bewahrt?
Warum kam niemals zum Erliegen,
warum verstummte nicht in mir,
die freche Lust zu kämpfen, siegen,
die fröhlich dreiste Lebensgier?
Weil ich in einem Land gebaren,
das Jämmerlingen nie gelacht,
weil ich seit Kindheit auserkoren
für seine Menschen, seine Pracht.
Russland birgt alles, was mir teuer,
und keine Hütte gibt es dort,
wo nicht ein Platz für mich am Feuer
ein kluges, teilnahmsvolles Wort.
Mein Talisman: der Heimat Erde.
Mein Stolz: dass ich, der stets ihr nah,
Petschorsker der Petschora werde
und Ladosbsker dem Ladoga.
Und wenn ich auch durch Russlands Breiten,
Zugvogel, streif tagaus, tagein,
in mir wird immer seiner Weiten
und stillen Grösse Echo sein.
Uninteressante Menschen gibt es nicht
Uninteressante Menschen gibt es nicht.
Jeder hat seine Geschichte, sein Gesicht,
das nur ihm gehört. Ein jeder ein Planet:
So reich, und keiner, der ihm gleicht. Versteht:
Auch wenn einer unauffällig lebt,
der nichts als Unauffälligkeit erstrebt,
ist er unter allen andern dann
durch seine Unauffälligkeit interessant.
Jeder hat seine geheime Welt,
von einem schönsten Augenblick erhellt,
von einem schrecklichsten Tag versehrt:
und allen andern ist sie ganz verwehrt.
Und wenn ein Mensch stirbt, stirbt mit ihm
sein erster Schnee aus jener grauen Früh,
sein erster Kuss nachts und sein erster Zorn:
und all das nimmt er mit sich fort.
Bücher bleiben uns und Brücken. Kram
und Maschinen, Leinwände, gut gerahmt,
Geschmeide und Gelumpe —vieler bleibt:
und alles andre zerfällt mit seinem Leib.
Das ist das Gesetz dieses rohen Laufs,
nicht Menschen sterben: Wehen hören auf.
Wir weinen ihnen eine Träne nach
und erkannten sie nicht am hellen Tag.
Was wissen wir vom Bruder und vom Freund,
von ihr, die nah uns ist und ferne träumt!
Vom eignen Vater, Gesicht gegen Gesicht,
wissen wir, alles wissend, nichts.
Die Menschen gehen fort … Dann sind sie fort.
Ihre Welten sind ein toter leerer Ort.
Und jedes Mal, und denk ich dein,
möchte ich über dieses Ende schrein.
Brautwerbung, sibirisch
1941, als für uns der Krieg begann,
Da gab’s einen Bräutigam.
Schon tags darauf musste er fort in den Krieg,
In einem kaum heizbaren Güterwagen.
Die Verwandtschaft auf unserer Bahnstation Sima hiess ihn
Auf einen knarrenden Schemel hocken.
1941, als für uns der Krieg begann,
Da gab’s eine Braut.
Sie kam mit einem Becken vorsichtig daher,
Es war schwer und mit Rosen bemalt.
Sacht stieg der Dampf auf,
Bedrohlich schwappte das Wasser.
Sie zog dem Bräutigam die Stiefel aus.
Dann tauchte sie
Seine nackten Füsse ein – noch bubenhaft waren
Die Schrammen daran.
Ein kleines Zusammenzucken,
Und das Wasser spritzte über den Beckenrand
Auf den blumenbunten kleinen Teppich darunter.
Mit Wasser liebkoste sie seine Füsse,
Grossmutter-zärtlich
Perle auf Perle,
So perlte es aus ihren Augen die Backen entlang ins Becken.
Auf Knien, so hockte sie
Vor ihrem künftigen Mann,
Dessen Zukunft war todesgewiss,
Und im Voraus wusch sie ihn nach altem Brauch –
Denn sollte er sterben, dann nicht ohne diesen Gefallen.
An seinen Beinen,
Wie liebkoste sie da mit ihren Fingerspitzen jedes einzelne Härchen –
Wie eine Bäuerin auf dem Feld jedes einzelne Hälmchen.
Ihr Zukünftiger: so sass er da – weder tot noch lebendig.
Sie wusch ihm die Beine,
Von Wangen und Haarsträhnen wurde er nass –
Auch ihm tränten die Augen,
Sie schwitzten die Tränen nur so.
Da weinten Verwandte und Ikonen mit.
Jetzt beugte sich die Braut,
Nach altem Brauch setzt sie zum Zuge an,
Das Waschwasser ihres Liebsten zu trinken, –
Da fuhr er auf,
Ein jäher Zug, er hob sie hoch,
Als wär sie jetzt seine Frau.
Jetzt war’s der Mann, der kniete –
Sanft streift er von ihren Füssen
Die bunt bestickten Pantöffelchen,
Er taucht ihre Füsse ins Becken –
Die zitterten, als hätten sie Schüttelfrost.
Ach, wie er ihr die Füsse wusch …
Zärtlich Zeh für Zeh,
Behutsam Nagelbett für Nagelbett,
Wie Kügelchen hat er die Knöchelchen
Zwischen zitternden Handflächen gerollt!
Ach, wie er sie wusch…
Dann hob er das Becken,
Beugte sich nieder,
Hielt’s zärtlich an seinen Mund.
Und das Gefäss aus Email bebte
An den trinkenden, schluckenden Lippen.
Sein Adamsapfel tanzte im Hals –
So trank er alles aus
Und übers Gesicht und über die Brust rann
– wie die allerreinste Fahne, glasklar, rann
Von den liebsten Füssen der Welt das Wasser.
In Russland zählt ein Dichter doppelt
In Russland Dichter sein heißt mehr als dichten.
Poet ist hier, wer fähig, wer bereit,
Sich an der Heimat Würde aufzurichten,
Nicht zu verharren in Bequemlichkeit.
Der Dichter hier ist des Jahrhunderts Rufer,
Der Zukunft Bote und ihr frühes Bild.
Er zieht Bilanz; nimmt ohne Furcht vom Ufer
vergangner Zeiten sich, was währt und gilt.
Werd ich bestehen? Meine Fähigkeiten
Sind nur gering. Ich schätz es nüchtern ein.
Doch Russland selber mahnt mich, unbescheiden,
Verwegen und voll Zuversicht zu sein.
So wend ich mich an euch, russische Dichter.
Bereit zum Siegen oder auch zum Tod,
Fleh ich euch an, neigt freundlich die Gesichter
Herab zu mir und helft mir aus der Not.
Gib die Melodik, Puschkin, mir, Akkorde
geschliffnen Lauts, von Fesseln frei.
Gib deines Schicksals Feuer, hilf dem Worte,
Dass es der Rede Stachel sei.
Gib, Lermontow, die kritische Betrachtung,
Den scharfen Blick, die bissige Verachtung.
Nekrassow, nimm mir fort das Unbeschwerte,
Führ mich mit deinen Versen, schmerzzerwühlt,
An Gutshoftreppen, auf die Bauernerde,
Wo man der Felder riesige Weiten fühlt.
Jessenin, gib mir Glück und Zärtlichsein
Mit Birken, Wiesen, Menschen, Herden,
Mit allem, was wir lieben, weil es rein,
Weil schüchtern es und schutzlos ist auf Erden.
Gib, Majakowski, mir die Wucht, das Ungestüm, die starke,
Dröhnende Stimme, gib mir die Unversöhnlichkeit,
Mit der das Pack du schlugst, damit ich gleichfalls schlage,
Ein Beispiel für die Kommenden, mich durch die Zeit.
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
frag, wann die Stille tödlich stieg,
den russischen Soldaten frag,
er liegt dort, wo er sterbend lag,
hol ihn ans Licht und sieh in an,
und weil er selbst nicht sprechen kann,
frag seinen Sohn von Mann zu Mann:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Nicht nur fürs eigne Vaterland
starb der Soldat im Weltenbrand.
Nein, dass auf Erden jedermann
sein Leben endlich leben kann.
Hol dir auch bei dem Kämpfer Rat,
der siegend an die Elbe trat,
frag, was in seinem Herzen blieb:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Der Kampf hat uns nicht schwach gesehn,
doch nie mehr möge es geschehn,
dass Menschenblut so rot und heiss
die Erde tränkt als bittrer Preis.
Ich seh das Haar der Mütter grau,
und frag auch bitte meine Frau,
weisst du, wo die Antwort liegt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?
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